Psychische Gefährdungsbeurteilung: Digitalisierung

Digitale Instrumente werden seit längerem auch für die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen (GBP) angewendet. Ganzheitliche digitale Gefährdungsbeurteilungen gibt es aber erst seit wenigen Jahren. Ein Wegbereiter für die Entwicklung ganzheitlicher digitaler GBP-Systeme war das Projekt „Dynamik 4.0“. Mit dem im Rahmen dieses Projekts entwickelten webbasierten System lassen sich auch völlig neuartige psychische Stressoren, die durch Industrie 4.0 entstanden sind, schnell und flexibel erfassen und angehen – vor allem durch die konsequente Einbindung der betroffenen Beschäftigten.

Betriebe sind seit 2013 dazu verpflichtet, eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen (GBP) durchzuführen. Trotz dieser gesetzlichen Vorgaben gibt es teilweise immer noch erhebliche Umsetzungsprobleme bei der Durchführung der GBP, insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die hierfür zumeist nicht über ausreichend finanzielle, zeitliche, fachliche und personelle Ressourcen verfügen. Digitale GBP-Instrumente können hier Abhilfe schaffen, da sie nach der Anschaffung weniger Ressourcen erfordern als analoge GBP-Durchführungen.

Projekt Dynamik 4.0

Bereits seit längerem werden von Unternehmen auch einige digitale Tools zur Durchführung von GBP genutzt, die die analogen Verfahren unterstützten und begleiteten. Bis vor wenigen Jahren existierte allerdings kein Verfahren, das den gesamten Prozess der GBP rein digital abbildete. Unter anderem ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Verbundprojekt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat diese Lücke zwischen 2016 und 2020 aber mittlerweile geschlossen. In dem Projekt „DYNAMIK 4.0“ wurde ein webbasiertes Verfahren entwickelt, das den gesamten Prozess der GBP von der Vorbereitung über die Analyse bis hin zur Evaluation und Dokumentation übernehmen kann.

Neue Stressoren identifizieren

Das im Rahmen des Projekts konzipierte webbasierte System soll Unternehmen dabei helfen, mittels der GBP neue und sich rasch ändernde psychische Belastungen der Industrie 4.0 flexibel zu erfassen und für diese möglichst schnell entsprechende Maßnahmen des Arbeitsschutzes umzusetzen. Dafür wurden zunächst aktuelle und potentiell neuartige Arbeitsbelastungen in der Industrie wie auch Anforderungen an die moderne GBP im Rahmen von Online-Befragungen an die Beschäftigten in mehreren kleineren und einem größeren Unternehmen identifiziert.

Testfeld Hanning Elektro-Werke

Bei dem größeren Test-Unternehmen handelte es sich um die Hanning Elektro-Werke. Das ostwestfälische Unternehmen mit Hauptsitz in Oerlinghausen, ist einer der weltweit führenden Hersteller elektrischer Antriebssysteme. Schon frühzeitig wurden bei Hanning Produktionsabläufe um digitale Komponenten erweitert und angepasst, wobei dieser Prozess im Rahmen des Projekts weiter voranschritt – unter anderem in der Mensch-Roboter-Kollaboration. Diese Erfahrungen und die laufenden Entwicklungen im Unternehmen boten für das Projekt ideale Bedingungen, um die Veränderungen psychosozialer Arbeitsbelastungen zu untersuchen und Maßnahmen zu entwickeln, um diese Belastungen soweit wie möglich zu reduzieren.

Transparenz und Feedback

Das Dynamik-Websystem wird über eine zentrale Steuerungsseite von einer Hauptperson bedient, welche die Durchführung der GBP leitet. Auf der Steuerungsseite kann der aktuelle Stand der GBP von den Teilnehmern als auch allen Beschäftigten jederzeit eingesehen werden. Dies trägt zur Transparenz und damit auch Akzeptanz des gesamten Prozesses bei. Die Beschäftigten können ebenfalls zu jedem Zeitpunkt der GBP-Durchführung mit den Verantwortlichen Kontakt aufnehmen und Fragen stellen oder Anregungen liefern.

Expertise der Beschäftigten

Kernelement des Systems ist die Belastungsmessung mit integrierter Maßnahmenentwicklung. Dabei müssen die Beschäftigten Fragebögen beantworten, wobei die Fragenkataloge in sogenannte Problemfragen, Ursachenfragen und Lösungsfragen unterschieden werden. Die Beschäftigten schätzen zunächst ein, ob eine bestimmte Belastung im kritischen Maß vorhanden ist (Problemfrage). Trifft dies zu, wird detailliert der Ursache für das Auftreten dieser Belastung auf den Grund gegangen (Ursachenfrage). Hierbei kann zwischen bereits vorgebebenen Ursachen gewählt werden oder es kann in einem Freitext eine weitere Ursache genannt bzw. beschrieben werden. Um die Expertise der Beschäftigten vollständig zu nutzen, wird bei den Lösungsfragen direkt nach passenden Schutzmaßnahmen gefragt. Dr. Mathias Diebig von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der an der Durchführung von Dynamik 4.0 beteiligt war, konstatiert: „Diese Maßnahmen lassen sich bei entsprechender Qualität teilweise direkt umsetzen oder können in einer Expertenrunde konkretisiert werden. Insgesamt eignet sich das dreistufige Online-Tool auch dazu, Präsenzworkshops mit den Beschäftigten zu ersetzen, da diese auf diese Weise ohnehin intensiv in die GBP eingebunden werden und alle relevanten Informationen erhalten.“

Webpräsenz des Projekts: https://dynamik40.de