Vision Zero geht von der Erfahrungstatsache aus, dass sich Fehler im Straßenverkehr ebenso wie am Arbeitsplatz (oft ist die Straße auch der Arbeitsplatz) nicht vollständig vermeiden lassen. Evolutionär ist der Mensch auf eine Fortbewegung mit maximalen Geschwindigkeiten zwischen 20 und 30 km/h ausgelegt. Jahrtausendelang war das der Bereich, in dem sich Menschen bewegt haben. Jahrtausendelang waren Motorik und Koordination, aber auch Wahrnehmung und Informationsverarbeitung des Menschen auf diese Maximalgeschwindigkeit ausgerichtet.

Die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der Sensomotorik hat gezeigt, wie begrenzt die menschliche Kapazität ist, wenn es darum geht, die wichtigsten Informationen aus dem Umfeld aufzunehmen, zu verarbeiten und mit gespeicherten Informationen abzugleichen. Es ist evident, dass in Geschwindigkeitsbereichen, in denen sich unsere motorisierte Verkehrsteilnahme überwiegend abspielt, Fehlentscheidungen des Menschen nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel sind. Hinzu kommen – egal ob bei der Arbeit oder im Straßenverkehr – Fehler des Menschen durch emotionale, motivationale oder stressbedingte Prozesse. Deshalb ist es auf den ersten Blick nicht erstaunlich, wenn die Unfallforschung im Straßenverkehr ebenso wie am Arbeitsplatz deutlich konstatiert, dass der überwiegende Anteil aller Unfallursachen in menschlichem Fehlverhalten zu suchen ist.

Genau hier liegt aber auch der falsche Denkansatz: Wenn der Mensch mit seiner evolutionär verfügbaren Motorik, Koordination, Wahrnehmung und Informationsverarbeitung zumeist nicht in der Lage sein kann, den heutigen Straßenverkehr oder bestimmte Tätigkeiten fehlerfrei zu bewältigen, dann können wir ihm Fehler nicht vorwerfen. Oder anders formuliert: Selbst bei bestem Wissen und Gewissen ist es nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit, wie hoch die jeweils aktuelle Fehlerquote ist. Bei hohen Geschwindigkeiten und/oder komplexen Arbeitssituationen wird diese Fehlerquote hoch sein. Ebenso ist es nur eine Frage der zum Glück allerdings recht niedrigen Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Unfall kommt.

Dies bedeutet allerdings auch, dass wir bei fast jedem Verkehrsunfall und ebenso bei vielen Arbeitsunfällen davon ausgehen können, dass in der Kausalkette der Unfallverursachung an vielen Stellen menschliche Fehler zu finden sein werden. Die entscheidende Frage ist dann aber, welche Fehler wir dem Menschen überhaupt vorwerfen können. Denn unsere Arbeitswelt und unser heutiges Straßenverkehrssystem sind zu selten an die Tatsache angepasst, dass Menschen Fehler machen. Weltweit sterben jeden Tag Menschen, weil ihnen selber oder anderen Fehler unterlaufen. Meistens sind es Fehler, die sich tausendfach ereignen und wegen der geringen Unfallwahrscheinlichkeit i. d. R. ohne Folgen bleiben. In einer speziellen Konstellation von Umgebungsbedingungen oder einer besonderen Interaktion mit anderen Personen oder Maschinen werden tausendfach begangene Fehler plötzlich mit dem Tod oder einer schweren Verletzung bestraft. "Fehler dürfen nie mit dem Tod bestraft werden", heißt es folgerichtig in der Konzeption von Vision Zero.

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