Mit "Dynamic Action Learning" den Sprung wagen

Schätzungen zufolge werden nur etwa zehn Prozent der Führungsentwicklungsprogramme als nützlich empfunden, wenn es darum geht, Gelerntes in der eigenen organisationalen Realität umzusetzen. In Ergänzung zu dieser Zahl, die im Harvard Business Manager angeführt wurde, kennen wohl viele Lernprofis Feedbacks von Teilnehmenden dieser Programme wie zum Beispiel: "Das Entwicklungsprogramm hat viele Impulse gegeben, aber es ist halt schwierig, dies bei uns umzusetzen." Gleichzeitig mangelt es nicht an Tipps und Tricks ob in Lernvideos oder Social Media Posts, wie Führungskräfte führen und was sie alles tun müssten.
Auch nicht neu ist, dass die Zeiten für einfache Antworten – sollte es sie je gegeben haben – auf die vielfältigen Dilemmata, Herausforderungen und Spannungsfelder von Führungskräften vorbei sind. Der Komplexität, mit der wir alle konfrontiert sind, werden einfache Strukturen und Zugänge nicht gerecht. Im Organisationsdesign hat sich diese Erkenntnis mittlerweile durchgesetzt, und ein breites Experimentierfeld für Alternativansätze zur klassischen Hierarchie ist entstanden.
Anders stellt sich die Situation unseres Erachtens in der Führungskräfteentwicklung dar. Hier ist, trotz aller Auflockerung durch Case Studies, Simulationen, Rollenspiele, künstliche Trainingsumgebungen, Outdoorherausforderungen und vielem mehr, die Grundstruktur der Herangehensweise immer noch durch einen eher frontalen Top-down-Zugang von "Teaching & Telling" gekennzeichnet. Dessen Erfolgspotenzial ist eher begrenzt – insbesondere was den Transfer von Wissen und Fähigkeiten in die komplexe, organisationale Realität mit all ihrer Dynamik anbelangt. Zur Frage, wie Führungsentwicklungsprogramme gestaltet werden sollten, sodass Umsetzbarkeit erleichtert und die Wirkung auf die Organisation erhöht werden, haben wir eine Antwort entwickelt – getestet, weiterentwickelt, wieder getestet, angepasst ... mit verschiedenen Zielgruppen, Organisationen und Kulturen: den "Dynamic Action Learning"-Ansatz.
Der Ursprung: Action Learning
Reginald Revans, der Erfinder von "Action Learning", schreibt den Impuls zur Entstehung seines Konzepts einem tragischen historischen Ereignis zu: dem Untergang der Titanic im Jahr 1912. Sein Vater, der als Schiffsarchitekt damit beauftragt war, die Ursachen zu untersuchen, war zu dem Schluss gekommen, dass zwar während des Baus der Titanic starke Zweifel an der Unsinkbarkeit in den Köpfen der Ingenieure und Handwerker aufgekommen waren. Aber niemand hatte den Mut, diese Zweifel und alternative Konstruktionslösungen in Anwesenheit hierarchisch übergeordneter Experten zu äußern. Diese Erkenntnis habe ihn zur Entwicklung von "Action Learning" motiviert, wie die "International Federation of Action Learning" schreibt.
Ausgangspunkt für die Anwendung von "Action Learning" ist immer ein reales und relevantes Problem oder eine spezifische Fragestellung einer Organisation. Im Unterschied zur Projektarbeit oder Planspielen geht es im "Action Learning" einerseits um das Entwickeln von neuen, inhaltlichen Lösungsansätzen. Andererseits aber vor allem um wiederkehrende Feedback- und Reflexionsschleifen, in denen Vorgehensweisen bezüglich Annahmen und Lösungen aus der Vergangenheit hinterfragt und angepasst werden, und eigenes Lernen unterstützt wird. Dadurch entsteht doppelter Nutzen: Während neue Lösungen für organisationale Fragestellungen entwickelt werden, eignen sich die Teilnehmenden neue Vorgehensweisen an, indem sie sie direkt anwenden. Dieses strukturierte Lernsetting wird durch einen sogenannten "Facilitator" begleitet, der oder die insbesondere durch Reflexionsfragen die Gruppe beim Lernen unterstützt. Das sogenannte "Action Learning Set" steht im Zentrum: Eine Gruppe von vier bis sechs Personen arbeitet in den "Set-Meetings" an relevanten organisationalen Herausforderungen. "Set-Meetings" haben dabei eine relativ stark vorgegebene Struktur mit klaren Rollen und Verantwortlichkeiten. Der "Facilitator erklärt, wie das Lernen im Action Learning abläuft und steuert als Rollenmodell den Prozess. Dadurch hilft er dem Set, Abläufe und Verhaltensweisen auszuformen und mit Leben zu füllen. (…) Dazu setzt er auch Methoden zur Problembearbeitung und Fragetechniken ein", wie Bernhard Hauser in dem Buch "Action Learning" beschreibt.
"Action Learning" findet vor allem in der Führungskräfteentwicklung Anwendung, weil die Trennung von Theorie und Praxis vermeintlich aufgehoben wird. So haben auch wir viele Jahre mit "Action Learning Sets" gearbeitet, wurden aber immer wieder auch durch Kundenfeedbacks in unserem Eindruck bestärkt, dass das noch besser gehen müsste. Angeregt von Statements wie "Unsere organisationale Realität ist wesentlich komplexer", "Was hier gut funktioniert, da jemand uns die Struktur gibt, ist bei uns in der Organisation schwer umsetzbar" und den Bewertungen, dass "Action Learning" zu langweilig sei, zu viel Zeit brauche oder nicht die Dynamik des Unternehmens widerspiegele, begannen wir entlang folgender Leitgedanken mit der Weiterentwicklung zu experimentieren.
Kernprinzipien von "Dynamic Action Learning"
Der Kern von "Action Learning", die Arbeit an relevanten Herausforderungen der Organisation, musste für uns auch in einem weiterentwickelten Ansatz zentral bleiben. Immer dann jedoch, wenn – sei es über neue Führungs-, Arbeits- oder Organisationsmodelle – nachhaltige Kulturtransformationen das Ziel sind, setzen wir im Design von Führungsentwicklungsprogrammen auf folgende Kernprinzipien von "Dynamic Action Learning":
- Teilnehmende arbeiten an aktuellen, relevanten Fragestellungen der eigenen Organisation (und nicht an hypothetischen Simulationen oder bereits gelösten Fragestellungen) in einem komplexen Setting, in dem bereits auf der Inhaltsebene unterschiedliche Aufträge parallel zu bearbeiten sind, das Setting also die Komplexität der bestehenden organisationalen Realität spiegelt.
- Hinzu kommen die neuen Rollen und Themen eines veränderten organisationalen Set-ups: Teilnehmende übernehmen die Verantwortung, neue Führungsprinzipien, -werte und –verhalten im Programm zu operationalisieren und zu etablieren. Dadurch trifft die Herausforderung der Erweiterung der Führungskultur auf Hindernisse der bestehenden Kultur und bietet Raum für praxisrelevante Reflexion.
- In Ergänzung dazu übernehmen die Teilnehmenden auch selbst die Verantwortung für das Lernen an sich in einem Führungsentwicklungsprogramm und müssen Entscheidungen hinsichtlich Struktur und Setting des Führungsentwicklungsprogramms selbst treffen – dazu gehört es selbstverständlich auch, dass die Teilnehmenden selbst für die Motivation im Entwicklungsprogramm verantwortlich sind.
- Insgesamt entsteht so eine Art Matrix, in der die Arbeit an Lösungen sowie die Antworten (Output) auf Businessherausforderungen und das Erlernen und Umsetzen erweiterter oder neuer Führungsprinzipien (Outcome) parallel verfolgt werden.
Durch diese Prinzipien, die im Design aus unserer Sicht hilfreich sind, entsteht ein hohes Maß an Komplexität, Unklarheit, Ambivalenz und Unsicherheit im Führungsentwicklungsprogramm selbst, welches noch dadurch verstärkt wird, dass verschiedene Führungsvakua bestehen. Diese Form von Lernumgebung spiegelt die Führungsrealität der Teilnehmenden wider und erzeugt Stress und tiefe emotionale Einbindung. Dadurch rufen die Teilnehmenden zunächst ihr in der Organisation sozialisiertes Führungsverhalten ab, was für uns zentral für Veränderung und Entwicklung ist. Solche Momente in einem Führungsentwicklungsprogramm für intensive Feedback- und Reflexionsinterventionen zu nutzen, sehen wir als entscheidend an. Die Führungskräfte rufen ihre Führungsautomatismen ab und realisieren in der Reflexion – welche Wirkung diese auf ihr Umfeld und die Lösung operativer Themen haben. Welche der Automatismen dabei hilfreich sind, welche jedoch auch stark hinderlich sind und es anzupassen gilt.
In Ergänzung dazu erlauben diese Situationen die notwendige Offenheit, um die Reflexion nicht auf der Verhaltensebene zu schließen, sondern einzuladen, transparent zu machen, welche Annahmen, Ängste, Befürchtungen und eigene Unsicherheiten dahinterstecken. So entsteht eine Kultur des Vertrauens und der Verwundbarkeit und die Teilnehmenden realisieren ihren Einfluss auf Kulturveränderungen im Führungsentwicklungsprogramm selbst.
Ausgehend aus diesem Erleben und den Wirkungen des sozialisierten Führungsverhaltens, der offenen Reflexion und dem Feedback generieren die Teilnehmenden selbst eine Atmosphäre, in der sie dann neue Führungsalternativen ausprobieren und mit diesen experimentieren können.
Dieser Prozess stellt für uns die Essenz von "Dynamic Action Learning" dar: Die Teilnehmenden eines Führungsentwicklungsprogramms erleben sich selbst in ihrem sozialisierten Führungsverhalten und dessen Wirksamkeit beim Angehen komplexer, relevanter und realer Herausforderungen, passen ihr Verhalten an, experimentieren mit neuen Führungsalternativen, bewirken schon während des Programms eine Führungskulturveränderung und führen diesen Veränderungsprozess selbst. Sie treffen die Entscheidungen für die Struktur und das Setting.
Der Facilitator spielt dabei eine entscheidende Rolle für das Gelingen des Ansatzes und diese unterscheidet sich wesentlich von der Rolle eines klassischen Trainers: Die Haltung des Facilitators ist vor allem durch Demut und Neugierde geprägt. Genauso wie die Teilnehmenden selbst weiß der Facilitator nicht, wie sich ein Programm entwickelt, welche Dynamiken und Konflikte auftauchen werden. Diese eigene Unsicherheit transparent zu machen, statt Top-down den Entwicklungsprozess zu leiten, trägt erheblich zum Erfolg des Konzepts bei.
"Dynamic Action Learning" in der Praxis
An drei Beispielen wird deutlich, wie der Ansatz von "Dynamic Action Learning" in der Praxis ablaufen kann. Diese und all die anderen Praxiserfahrungen der vergangenen acht Jahre zeigen, dass dieser Ansatz immer dann, wenn Kulturtransformationen das Ziel sind, nachhaltige Ergebnisse liefern und den Graben zwischen Theorie und Praxis überwinden kann.
Drei Use Cases |
Internationales Management-Development- Programm für Führungskräfte von Genossenschaftsbanken |
Führungskräfte, die einem neuen Arbeits- und Führungsansatz zumindest zustimmen oder besser noch befürworten und vorantreiben sollen, müssen die Möglichkeit haben, sich einen möglichst realitätsnahen Eindruck davon zu verschaffen, was er leisten kann und mit welchen Herausforderungen er verbunden ist. Der Ansatz des "Dynamic Action Learning" bietet genau diesen entscheidenden Vorteil.
Zu den Autoren:
Matthias Klein ist Gründer und Geschäftsführer der Organisationsberatung Questo Prosulting. Er hat den Ansatz "Dynamic Action Learning" mitentwickelt und in Praxisprojekten bis heute immer weiter verfeinert.
Markus Rettich ist Leiter Leadership-Programme bei Daimler Truck und war verantwortlich für das "Dynamic-Action-Learning"-Format bei der Daimler AG. Er will damit die Führungskräfte auf dynamisch-komplexe Herausforderungen vorbereiten.
Joachim Schwendenwein ist systemisch-gruppendynamischer Organisationsberater. Er hat das Ziel, Angebote zu schaffen, die der Dynamik und Komplexität des 21. Jahrhundert gerecht und unmittelbar relevant werden.
Dieser Beitrag ist erschienen in neues lernen, Ausgabe 2/2025, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der App personalmagazin - neues lernen. In der App finden Sie auch die aktuellen News rund um "neues lernen" und den Podcast für die betriebliche Lernszene. Kristina Enderle da Silva und Julia Senner hinterfragen im Podcast "neues lernen" aktuelle Lerntrends, liefern Fakten und geben Einblicke in die Unternehmenspraxis.
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