Praxisbeispiel zu Agilität: So macht es die Deutsche Bahn

Im Ideal der agilen Organisation sieht Cornelius Fischer nur ein Zwischenziel für den Deutsche-Bahn-Konzern. Der Experte für hierarchiefreies Arbeiten im "DB-Thinktank Digitalisierung und Technik" verortet das Unternehmen im Interview mit dem "personalmagazin" bereits auf dem Weg hin zu einer lernenden, sich wandelnden Organisation.

Personalmagazin: Um die Bahn agiler zu machen, wurde 2014 eine Digitalisierungsstrategie eingeführt – wie klappt das, wenn ein traditoneller Konzern Agilität verordnet?

Cornelius Fischer: Wir hatten im Konzern das Thema Digitalisierung Anfang 2014 relativ groß aufgesetzt – mehrere 4.0-Initiativen sollten einen Digitalisierungsimpuls im Konzern auslösen. Der Effekt waren viele Elemente des agilen Arbeitens, die sich zunächst als Bestandteil einer relativ großen Projektarchitektur gebildet hatten. Dann haben wir gemerkt, dass es wenig Sinn macht, für ein derart großes Projekt alles Weitere mit einem zentralen Steuerungsanspruch zu erarbeiten. Auch methodisch haben wir uns also dem Thema angepasst – so wurden einzelne Themenbereiche in Programme überführt, die dann autark gearbeitet haben. Das Interessante dabei war, dass sich aus der Auflösung der alten, eher verkrusteten Struktur heraus ganz viele Elemente verselbstständigt haben. Plötzlich hatten wir Bottom-up-Initiativen im Konzern, an denen die Mitarbeiter weiter arbeiten wollten, unabhängig davon, ob ein größeres Konzernprogramm noch dahintersteht.

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Unterschiedliche Initiativen im Konzern einsammeln

Personalmagazin: Das klingt nach bereits gelebter Agilität.

Fischer: Genau – wir haben quasi im Erarbeiten der Digitalisierung gemerkt, dass dieses ganze agile Arbeiten durchaus seinen Wert hat. Es ist viel schneller und viel besser möglich, in kleineren Strukturen zum Erfolg zu kommen, als über eine riesige Organisation, die dann durch ihren Overhead selber schon zu einer gewissen Form von Verlangsamung führt. Das, was man klassischerweise als Change-Impuls verstehen würde, hat dieses Projekt, ohne es wirklich beabsichtigt zu haben, hervorragend umgesetzt.
Personalmagazin: Und was blieb als Rolle der Konzernorganisation?

Fischer: Als auf Konzernebene gesehen wurde, dass diese agilen Elemente tatsächlich schon genutzt werden, wurde mit der Personalstrategie eine Art virtuelles Team für unterschiedliche Einheiten aufgebaut. Ziel war, Lösungen dafür zu finden, dass die Menschen, die selbstständig und agil unterwegs waren, nicht an den Hindernissen, die ein Konzern mitbringt, scheitern. Es hat sich als Ziel gesetzt, die unterschiedlichen Initiativen im Konzern einzusammeln, ihnen ein Forum oder auch eine Stimme gegenüber den großen zentralen Gruppenfunktionen zu geben. Wir bieten den unterschiedlichen Initiativen, ganz egal aus welchem Grund heraus sie entstanden sind, die Möglichkeit zur Vernetzung und  zum Austausch, sowohl innerhalb der DB AG als auch mit anderen externen Unternehmen.

Höhere Bereitschaft für konstanten Wandel

Personalmagazin: Wie sieht die Zukunft aus? Ist es das Ziel, dass der gesamte DB Konzern agil wird?

Fischer: Natürlich wird die DB AG niemals in Gänze als agiles Unternehmen funktionieren, wenn Sie dabei von solchen Reinkulturen ausgehen, wie man sie aus kleinen und mittelständischen Unternehmen kennt. Was die DB aber auf jeden Fall sein wird: eine Vielzahl von unterschiedlichen, sehr stark auf die Kundenbedürfnisse, auf die organisatorischen Bedürfnisse ausgerichteten Government-Frameworks, die mal mehr und mal weniger agil sind. Deshalb glaube ich, dass wir dieses Ideal der agilen Organisation quasi schon überschritten haben und uns auf einem Pfad befinden in eine lernende, sich wandelnde Organisation. Der Wandel, den wir hier angestoßen haben, der hat dazu geführt, dass die Organisation eine höhere Bereitschaft hat für konstanten Wandel.

Personalmagazin: Sie sehen eine lernende, wachsende Organisation als Weiterentwicklung eines agilen Unternehmens?

Fischer: Auch komplett agile Unternehmen werden sich wieder wandeln müssen. Bis zu einem bestimmten Grad können sie das problemlos organisieren. Wenn ein Unternehmen aber erst mal eine bestimmte Größe erreicht hat, muss es sich immer wieder zentral rebooten, um quasi in diese Veränderungsprozesse einzutreten. Wir sind eine Art Brutkasten für unterschiedliche organisatorische Modelle, die sich immer wieder auf bestimmte zentrale Schnittstellen konzentrieren. Man definiert quasi eine Bandbreite, die den Raum der Möglichkeiten, in dem man sich bewegen kann, aufzeigt, aber keiner ist gezwungen, sich innerhalb dieses Raums auf bestimmte Positionen festzulegen.

Das strukturelle Beharrungsvermögen des Konzerns auflösen

Personalmagazin: Das heißt, der Lernprozess findet in beide Richtungen statt?

Fischer: Das ist sozusagen die Idealvorstellung aus der systemischen Pers­pektive. Es ist ja nicht so, dass die Hierarchie immer versagt – in verschiedenen Situationen kann sie die adäquate Lösung sein. Wenn Sie in einem agilen Raum in eine Krise geraten, kann es durchaus positiv sein, sich auch am alternativen Lösungspfad orientieren zu können. Dann könnten Sie beispielsweise für einen bestimmten Zeitraum zurück in die eher traditionelle Form gehen, um dann später wieder stärker zurückzukehren. Diese Offenheit hat man oft nicht, weil die Liebe zum System das überlagert. Durch die Vielfalt, die wir versuchen aufzubauen und sichtbar zu machen, können wir das strukturelle Beharrungsvermögen, diese Shadow sides der  großen Konzerne, vielleicht etwas auflösen.

Personalmagazin: Wo sind die Bereiche bei der DB, in denen Agilität nicht möglich ist?

Fischer: Ich persönlich glaube, dass alles agil werden kann. Ich stelle aber fest, dass man in Bezug auf die Agilisierung sehr demütig sein sollte, wenn man einen hohen Anteil an Blue-Collar-Mitarbeitern hat. Denn der Transformationsprozess dauert hier einfach länger. Das hängt häufig an den Führungskräften, deren Erwartungshaltung zu hoch ist. Empowerment auf der Ebene der Blue-Collar-Mitarbeiter bedeutet nicht, dass alle Leute Unternehmer werden – die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der 25 Jahre an der Stanzmaschine gestanden hat, plötzlich Entrepreneur werden will, ist relativ gering. Wenn aber in einer agilen Organisation für eine Lösung, bevor sie implementiert wird, das Feedback der Mitarbeiter eingeholt wird und diese soweit empowered sind, dass sie zum einen über die Konsequenzen nachdenken können und zum anderen aus ihrer operativen Erfahrung, ihr Erfahrungswissen mit einbringen können, ist Agilität für mich auf dieser Ebene erreicht. Dann hat man den Feedbackprozess, der so wichtig ist für die Unternehmen, um schnell auf Veränderungen reagieren zu können.

Man kann Selbstorganisation und Agilität nicht verordnen

Personalmagazin: Gibt es einen Zeitplan oder läuft der lernende Prozess für die Ewigkeit?

Fischer: Ich habe die große Hoffnung, dass es keinen Zeitplan geben wird. Das ergibt keinen Sinn. Sie können Selbstorganisation und Agilität nicht verordnen, mit intelligenten und agilen Frameworks kann auch sehr hierarchisch Kontrolle ausgeübt werden. Der Fortschritt in der Agilität hängt stark davon ab, wie die Themen gelebt werden. Fundamentale Veränderungen der Strukturen auf Arbeitsebene bekommt man nicht von heute auf morgen hin, man muss sich viel Zeit nehmen und Geduld haben.


Das Interview führte Katharina Schmitt, Redakteurin Personalmagazin.


 >> Lesen Sie dazu auch aus dem "personalmagazin" 09/2018: "Bloß keine Nostalgie" - wie die IT-Tochtergesellschaft der Bahn, DB Systel, ihr digitales Profil geschärft und sich zur agilen Organisation weiterentwickelt hat.

Schlagworte zum Thema:  Agilität, Change Management