Gesundheitsmanagement: "Zehn Stunden sind die goldene Regel"

Goldman Sachs hat die Fünf-Tage-Woche eingeführt. Für das Investmentbanking, wo 72-Stunden-Schichten keine Seltenheit sind, ist dies eine Revolution. Welche fatalen Auswirkungen Stress auf Körper und Psyche hat und was man dagegen tun kann, erklärt die Arbeitspsychologin Kerstin Reviol.

Haufe Online Redaktion: Welche körperlichen und psychischen Auswirkungen hat akuter Stress, wie ihn etwa ein Investmentbanker bei einer 72-Stunden-Schicht erlebt?

Kerstin Reviol: Bei punktuellem Stress steigen Blutdruck, Puls und Muskelspannung. Rückenprobleme gehen etwa zu 80 Prozent auf Muskelverspannungen zurück. Dann beschleunigen die Reflexe, der sogenannte Tunnelblick entsteht, die Verdauung pausiert, das logische Denken setzt aus und die Unfallwahrscheinlichkeit steigt. Der Mensch kann solche Belastungen, die über seine eigentlichen Grenzen hinausgehen, phasenweise aushalten, aber nicht langfristig. Deshalb sollten Unternehmen mit der Zehn-Stunden-Regel auf der sicheren Seite bleiben.

Haufe Online Redaktion:  Zehn Stunden sind das rechtliche Maximum täglicher Arbeitszeit.  Ist das auch ein Richtwert dafür, was für den Körper noch gesund ist?

Reviol: Zehn Stunden Arbeit kann ein Mensch über einen längeren Zeitraum hinweg gut verkraften. Kurzpausen müssen dabei aber sein – und Stresspuffer, wie zum Beispiel Sport. Wichtig ist, bei akutem Stress das Adrenalin im Körper wenn möglich am gleichen Tag noch abzubauen. Unser Problem ist jedoch der Dauerstress:  Wenn die Koalitionsverhandlungen sich beispielsweise wochenlang hinziehen und die Politiker immer bis tief in die Nacht arbeiten, wirkt sich der Stress irgendwann auf das Immunsystem aus. Dann können  Langzeitschäden entstehen, die nicht kompensierbar sind, wie zum Beispiel Bluthochdruck, Schlafstörungen und psychosomatische Störungen wie Hörsturz oder Tinitus. Als goldene Regel würde ich empfehlen: Zehn Stunden Arbeit sind das Maximum, das Wochenende sollte frei und der Umgang mit Blackberry und Co. klar geregelt sein.

Haufe Online Redaktion:  Bei den Koalitionsverhandlungen forderte Andrea Nahles nach einer durchdiskutierten Nacht Alkohol, und laut TK-Bericht entspannen auch 38 Prozent der Arbeitnehmer mit dieser legalen Droge. Fördert Stress das Suchtpotential?

Reviol: Ja, absolut. Die Arbeitnehmer kommen irgendwann nicht  mehr runter. Wenn  man so lange arbeitet, kommt man in einen Rauschzustand, auch ohne Alkohol. Es besteht die Gefahr, dass man zum Alkohol greift um runterzufahren. Wenn man das ein- oder zweimal macht, ist das kein Problem. Nur wenn Sie die Belastung auf Dauer so kompensieren, haben wir es hier mit einer Suchtentwicklung zu tun.

Haufe Online Redaktion:  Aber Stress ist doch manchmal auch gut, oder?

Reviol: Das stimmt, es gibt ja das Konzept des "Eu-Stresses" oder des "Flows": Das entsteht, wenn der Anspruch genau auf dem höchsten Niveau zu dem passt, was der Mitarbeiter kann. Das kickt. Das bedeutet vielleicht auch Stress, aber wenn das Erfolgserlebnis da ist, ist er zufrieden. Das passiert im Alltag aber relativ selten, und das Problem heute ist: Arbeitnehmer erfüllen verschiedene Arbeiten gleichzeitig, haben Termindruck und werden bei der Arbeit häufig unterbrochen. Dadurch sinkt die Konzentration schnell – nicht erst nach zehn Stunden. Ich bin mir sicher, dass man das besser organisieren könnte.

Haufe Online Redaktion:  Viele Unternehmen haben das bereits erkannt und versuchen die Work-Life-Balance ihrer Mitarbeiter zu optimieren. Warum?

Reviol: Vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen: Fachkräfte werden rar, wir entwickeln uns von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt. Junge Arbeitnehmer, die sich den Arbeitgeber aussuchen können, etwa im Ingenieurbereich, fragen heute nicht mehr nach dem Dienstwagen, sondern danach, ob es im Unternehmen ein Sabbatical gibt.

Kerstin Reviol ist fachliche Leiterin Arbeits- und Organisationspsychologie bei der Tüv Süd Life Service GmbH. Die Diplom-Psychologin bietet arbeitspsychologische Sprechstunden in Unternehmen an.

Das Interview führte Andrea Kraß, Redaktion Personal.

Schlagworte zum Thema:  Betriebliches Gesundheitsmanagement