Zusammenfassung

 
Überblick

Kritische Situationen, welche die eigene Gesundheit oder gar das Leben potenziell oder real bedrohen, sollte der Mensch als vernunftbegabtes Wesen eigentlich meiden. Dennoch werden solche Risikosituationen gesucht, bewusst herbeigeführt oder man setzt sich ihnen – manchmal wider besseres Wissens – aus. Für das auf den ersten Blick paradox erscheinende Verhalten, sich unnötigen Gefahren auszusetzen, haben Risiko- und Entscheidungsforscher Erklärungen und Antworten gefunden. Der folgende Beitrag beleuchtet Grundprinzipien in Wahrnehmung von Risiken und im Umgang mit Risiken. Um die Effekte zu verdeutlichen, werden Beispiele aus dem Arbeitskontext, aber auch aus vergleichbaren Situationen des Alltagslebens vorgestellt.

1 Die Ambivalenz menschlichen Verhaltens

Die heutige Lebens- und Arbeitswelt ist so gestaltet, dass wir uns relativ sicher darin bewegen können: potenziell gefährliche Situationen werden so weit wie möglich minimiert oder ganz ausgeschaltet. Das gilt zumindest in Deutschland und in vielen westlichen Industrienationen: Wohnhäuser und Straßen werden sicher gebaut, die Atomkraft wird zugunsten anderer Energiequellen heruntergefahren, sichere Arbeitsbedingungen werden als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, der Verkehr wird so geregelt, dass Unfälle im Straßen-, Schienen- und Luftverkehr möglichst vermieden werden können.

Versicherungen aller Art sichern uns gegen alle erdenklichen Risiken ab. Staatliche Institutionen bieten uns mit ihrer Existenz und zahlreichen Gesetzen ein Höchstmaß an Sicherheit und Schutz.

Dieses menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit, Schutz und Stabilität beschreibt der Motivationsforscher Abraham Maslow bereits 1943 in seiner Bedürfnispyramide: Sicherheitsbedürfnisse stehen nach den physiologischen Überlebensbedürfnissen, wie Essen, Trinken und Schlafen, an zweiter Stelle in der Hierarchie universeller menschlicher Bedürfnisse.

Im Kontrast dazu suchen wir uns Hobbys, die unsere Adrenalinproduktion in Gang setzen: Bungee Jumping, Freeclimbing, Rafting, Drachenfliegen, Fallschirmspringen, Motorradfahren oder Autorennen verschaffen Aufregung und bringen Schwung in unseren i. d. R. durchorganisierten Alltag.

 
Praxis-Beispiel

Viele Beispiele für gesuchte Risiken

  • Verkehrsregeln werden wissentlich missachtet, indem man sich auch mal mit einem Glas zu viel ans Steuer setzt. Tempovorgaben gelten nicht für einen selbst und Anschnallen für die kurze Fahrt zum Bäcker um die Ecke wird als nicht nötig erachtet.
  • Wir zocken in Spielkasinos und im Internet, erleben Hochs und Tiefs an der Börse mit angehaltenem Atem und erhöhter Herzschlagfrequenz. Auch selbst produzierter Zeitstress durch das Erledigen von Arbeiten auf den letzten Drücker oder provoziertes Zuspätkommen gehören in diese Kategorie selbstverursachter Risiken.
  • Selbst bei der Arbeit verhalten wir uns mitunter bewusst sicherheitswidrig, wenn Arbeitssicherheitsvorschriften außer Kraft gesetzt werden, die vorgeschriebene Schutzausrüstung nicht verwendet wird oder verbotene Abkürzungen benutzt werden.

Wie lässt sich dieses widersprüchliche Verhalten erklären?

Es scheint, als ob der Mensch nicht nur ein Sicherheitsbedürfnis, sondern auch ein Risikobedürfnis hat. "Ein Leben ohne Risiko wäre öde und langweilige Routine", so der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologe Professor Rüdiger Trimpop von der Universität Jena. Das Eingehen von Risiken verschafft uns Abwechslung im Alltag und bringt Schwung in unseren durchorganisierten und vorhersagbaren Alltag. Nur so können wir ihn überhaupt sinnvoll und angstfrei bewältigen, ergänzt der Risikoforscher Klaus Heilmann. Die Verdrängung von Gefahren sei sogar zweckmäßig, denn "wir können nicht jedes Mal Todesangst haben, wenn wir über eine Brücke gehen, auch wenn immer wieder Brücken einstürzen". Erst mit Herausforderungen, deren Bewältigung ungewiss ist, entwickeln wir uns weiter, wobei zu viel Leichtsinn der Gesundheit auch abträglich ist.

2 Phänomene der Risikowahrnehmung und -beurteilung

Risiko- und Entscheidungsforscher haben menschliches Verhalten in Bezug auf Risikovermeidung und Risikolust untersucht und liefern Erklärungen für unser zwiespältiges Verhalten: Wie nehmen Menschen bekannte und neue Situationen, deren Ausgang sie nicht kennen, wahr und welche Entscheidung treffen sie? Wie hoch ist das Risiko, das sie bereit sind, dabei einzugehen?

Dabei gilt im Umgang mit Risiken, dass diese i. d. R. nicht rational, sondern emotional eingeschätzt werden. D. h., es gibt kein objektives Erleben einer Gefahrensituation. Das Risikoempfinden ist immer auch abhängig von der Person, welche das Gefahrenpotenzial einschätzt: mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und ihrem Können, dem Alter, dem Geschlecht, ihrer aktuellen Verfassung. Auch die Gene und die erfahrene Sozialisation üben Einfluss auf risikofreudigere oder risikovermeidende Entscheidungen aus.

Folgende Phänomene sind belegt:

2.1 Risikoüberschätzung versus Risikounterschätzung

Die subjektive Bewertung der Gefährlichkeit einer Situation zeigt: Je gefährlicher wir eine Situation einschätzen, umso mehr sind wir auf Sicherheit bedacht; je alltäglicher und ha...

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