Verantwortlichkeiten

Der Machtkampf um die Verantwortung für Nachhaltigkeit


Machtkampf um die Verantwortung für Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit ist in vielen Unternehmen längst ein strategisches Muss – doch hinter den Kulissen tobt ein Machtkampf um Verantwortung, Kontrolle und Prioritäten. In diesem Gastbeitrag beleuchtet Prof. Ioannis Ioannou die strukturellen und kulturellen Herausforderungen einer nachhaltigen Governance und stellt die Frage: Wem gehört die Nachhaltigkeit?

In den meisten Unternehmen ist Nachhaltigkeit heute keine Randerscheinung mehr. Sie ist - zumindest nominell - Bestandteil von Strategiedokumenten, Investorenbriefings und Vorstandsdiskussionen. Die ESG-Teams sind gewachsen. Die Offenlegungspraxis ist ausgereift. Und der externe Druck, auf ökologische und soziale Risiken zu reagieren, ist trotz der politischen Gegenreaktion und des sichtbaren Rückzugs des Labels „ESG“ nicht verschwunden.

Nachhaltigkeit als Schauplatz interner Machtkämpfe

Doch innerhalb vieler Unternehmen entfaltet sich eine andere Dynamik - eine, die leiser, komplexer und zunehmend folgenreicher ist. In dem Maße, in dem Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt der Unternehmensstrategie rückt, wird sie auch immer umstrittener. ESG ist keine marginale Initiative mehr, sondern ein Schauplatz interner Auseinandersetzungen - stellvertretend für tiefer gehende Meinungsverschiedenheiten darüber, wer Werte definiert, welcher Zeithorizont wichtig ist und welcher Teil der Organisation die Führung übernimmt.

Das Ergebnis ist nicht einfach eine organisatorische Fehlanpassung. Vielmehr handelt es sich um eine Krise der Unternehmensidentität, die sich zwischen Rechtsabteilungen und Marketingteams, zwischen Finanzvorständen und Nachhaltigkeitsbeauftragten, zwischen Vorständen, die sich ihrer Rolle nicht sicher sind, und CEOs, die Kontroversen vermeiden wollen, abspielt. In dem Maße, wie sich ESG von einer externen Botschaft zu einer internen Strategie verlagert, lautet die Frage, die Unternehmen nun beantworten müssen, nicht mehr nur „Was ist unser Nachhaltigkeitsziel?“, sondern „Wer genau ist für diese Agenda verantwortlich - und zu welchem Preis?“

Dieses Spannungsfeld wird durch die regulatorische Unsicherheit noch verschärft. In den USA wurde die von der SEC erwartete Regelung zur Offenlegung von Klimadaten unter der Trump-Vance-Regierung erheblich verwässert, der Geltungsbereich eingeschränkt und die Umsetzungsfristen gestreckt. In der EU bleibt die CSRD in Kraft, steht aber unter erheblichem politischem Druck, wobei Vorschläge für eine Verschiebung und eine Reduzierung des Geltungsbereichs an Boden gewinnen. Globale Standards wie der ISSB haben Fortschritte bei der Harmonisierung gemacht, aber die Durchsetzung bleibt uneinheitlich. Das bedeutet, dass die regulatorischen Signale zwar weiterhin auf mehr Transparenz ausgerichtet sind, die Klarheit und Koordinierung, die sich viele Unternehmen erhofft hatten, jedoch nicht eingetreten ist.

Von externer Erwartung zum kollektiven Auftrag

In Ermangelung eines einheitlichen externen Rahmens sind die Unternehmen darauf angewiesen, intern zu handeln - und genau hier zeigen sich die Schwachstellen. Rechtsteams nehmen oft eine defensive Haltung ein und konzentrieren sich auf Risiken, Greenwashing-Prozesse und die Reputationskosten, die durch zu große Versprechungen entstehen. Finanzabteilungen prüfen ESG-Initiativen unter dem Aspekt der Kapitaleffizienz und des Drucks auf die Bilanz. Die mit der Durchführung betrauten Teams sind häufig skeptisch gegenüber Zielen, die ohne klare Umsetzungspfade festgelegt wurden. Und Marketingabteilungen, die auf kulturelle und politische Veränderungen eingestellt sind, drängen möglicherweise auf ein unauffälliges Rebranding, bei dem „Resilienz“ oder „verantwortungsbewusstes Wirtschaften“ gegenüber der jetzt umstrittenen ESG-Terminologie betont wird.

In der Zwischenzeit zögern die Vorstände, denen es oft an Fachwissen über Nachhaltigkeit fehlt, entschieden einzugreifen. Und CEOs, die zwischen Investoren, Aufsichtsbehörden und der öffentlichen Meinung stehen, müssen interne Debatten schlichten, bei denen es weniger um die Kohlenstoffbilanzierung als um Macht und Kontrolle geht. Nachhaltigkeit ist in vielen Unternehmen zu einem Test für die organisatorische Ausrichtung und zunehmend auch für die Führung geworden.

Diese internen Spannungen sind nicht neu. Neu ist jedoch, dass sie nun auch für die Außenwelt sichtbar sind. Greenwashing-Vorwürfe sind häufiger geworden, glaubwürdiger und rechtlich besser einklagbar. Investoren, selbst diejenigen, die dem ESG-Branding skeptisch gegenüberstehen, erwarten nach wie vor kohärente Darstellungen über langfristige Risiken. Und die Aufsichtsbehörden - vor allem in Europa - haben begonnen, sich nicht nur auf die Offenlegung, sondern auch auf die Unternehmensführung zu konzentrieren: Wer im Unternehmen ist für die Nachhaltigkeit verantwortlich und wie werden Entscheidungen getroffen?

Von externer Erwartung zum kollektiven Auftrag

Dies ist nicht nur eine kommunikative Herausforderung. Es ist eine strukturelle Herausforderung. Viele Unternehmen behandeln ESG immer noch als eine parallele Schiene - eine Initiative, die einer Nachhaltigkeitsfunktion mit begrenztem Budget, uneinheitlichen Befugnissen und unklaren Verbindungen zur zentralen Entscheidungsfindung gehört. Doch mit zunehmender Kontrolle und steigenden Erwartungen ist ein solches Modell nicht mehr haltbar. Zersplitterte Verantwortlichkeit führt zu inkohärentem Handeln. Und inkohärentes Handeln ist nicht mehr sicher.

Was wir brauchen, sind nicht einfach nur stärkere ESG-Teams, sondern eine klarere Architektur für Nachhaltigkeits-Governance. Das bedeutet, dass ESG in die Finanzplanung, die Kapitalallokation und das Unternehmensrisiko eingebettet werden muss - nicht als Berichtsschicht, sondern als integrierter Entscheidungsrahmen. Es bedeutet, Anreize zu schaffen und sicherzustellen, dass sich Nachhaltigkeitsziele in der Vergütung von Führungskräften widerspiegeln - und nicht nur in der Rhetorik. Und es bedeutet, die internen Machtkämpfe zu lösen, die ESG aufgeworfen hat, anstatt sie mit einer überarbeiteten Sprache zu übertünchen.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Unternehmen ihre interne Politik infrage stellen. Wer hat ein Vetorecht bei ESG-Initiativen - und warum? Welche Funktionen werden für langfristiges Denken belohnt, und welche nicht? Wie und von wem werden Kompromisse zwischen finanziellen Zielen und Nachhaltigkeitszielen geschlossen? Und vielleicht der wichtigste Punkt: Wer darf sagen, wenn Nachhaltigkeit unbequem ist?

Die Verwaltungsräte müssen hier eine aktivere Rolle spielen. Bei der Governance geht es nicht nur um Aufsicht - es geht darum, die Richtung vorzugeben, Grenzen zu definieren und Klarheit zu schaffen, wenn interne Mandate kollidieren. Allzu oft behandeln Vorstände ESG entweder als ein zu überwachendes Risiko oder als einen zu schützenden Ruf. Da ESG jedoch zu einer strukturellen Komponente der Unternehmensstrategie wird, müssen Vorstände sie als strategische Fähigkeit behandeln - eine, die Investitionen, Integration und ja, auch echte Kompromisse erfordert.

Dies hat auch eine kulturelle Dimension. Viele Unternehmen ringen noch immer mit veralteten Annahmen darüber, wer in Sachen Nachhaltigkeit glaubwürdig ist. Ist es die CSR-Legacy-Funktion, das Büro des CFO, der Chefsyndikus oder der Leiter der Strategie? In Wahrheit müssen es alle sein - aber das erfordert einen kulturellen Wandel hin zu einer gemeinsamen Verantwortung, die durch Strukturen unterstützt und durch die Führung gestärkt wird.

Was wir jetzt erleben, ist nicht der Tod von ESG, sondern ihre Verlagerung - vom externen Storytelling zu internen Systemen. Und das ist eine schwierigere, politischere und letztlich auch wichtigere Phase des Übergangs. Hier trifft Ehrgeiz auf Bürokratie, Sprache auf Budgets und Purpose auf interne Macht.

Die Frage, wer die Verantwortung für Nachhaltigkeit trägt, ist keine rhetorische Frage mehr. Sie ist operativ. Sie ist finanziell. Und sie ist strategisch. Die Unternehmen, die aus dieser Situation gestärkt hervorgehen werden, sind nicht unbedingt diejenigen mit den besten Unterlagen oder den ausgefeiltesten Nachhaltigkeitsberichten. Sie sind diejenigen, die ihre internen Konflikte mit Klarheit, Mut und Kohärenz lösen - die aufhören, Nachhaltigkeit als eine externe Erwartung zu betrachten, und anfangen, sie als kollektiven Auftrag zu behandeln.

Denn letztendlich ist Nachhaltigkeit nicht nur eine Reihe von Zielen. Sie ist ein Test für die Ausrichtung. Und im Moment besteht die wirkliche Gefahr nicht darin, dass die Unternehmen zu viel tun, sondern dass sie zu wenig tun, weil sie in zu viele Richtungen gezogen werden, ohne dass jemand klar die Verantwortung trägt.

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Dieser Beitrag ist ursprünglich in englischer Sprache auf LinkedIn erschienen. Wir haben ihn mit freundlicher Genehmigung von Prof. Ioannou übersetzt.


Schlagworte zum Thema:  Nachhaltigkeitsmanagement
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