Infografiken: Nachhaltigkeit als visuelle Gestaltungsaufgabe

Wie Infografiken in die Welt kamen
Die Informationsvisualisierung ist nicht erst durch die Digitalisierung zu einer eigenen Kulturtechnik herangereift. Die Praxis, Informationen visuell zu codieren und zu speichern, um mit ihnen zu arbeiten und sie weiterzureichen, ist sehr alt (man denke etwa an mesopotamische Rechentafeln in Keilschrift) und überspannt zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen und Themenfelder. Die Reduktion komplexer Sachverhalte auf wenige entscheidende Faktoren beschäftigt die großen Denker bereits seit Jahrtausenden. Dazu braucht es allerdings die Fähigkeit der Mustererkennung, aus einer Vielzahl von Informationen die wesentlichen Elemente herauszufiltern. Je komplexer ein Problem, desto vielfältiger sind die Quellen. Eine Lageanalyse ist für alle unerlässlich. Sie umfasst drei Schritte:
- Sammlung von Fakten
- Strukturierung der Fakten
- Interpretation der Fakten.
Der spezifische Begriff „Informationsgrafik“ bezieht sich ursprünglich auf Arbeiten, die als Druckgrafiken verbreitet wurden. Über Jahrhunderte waren gedruckte Holzschnitte, Radierungen oder Lithografien in der westlichen Kultur das dominierende Medium für Werke der Informationsvisualisierung. Diese Dominanz ist möglicherweise auch ein Grund dafür, dass das verkürzte Wort „Infografik“ noch immer als allgemeine Gattungsbezeichnung für vielfältige statische Informationsvisualisierungen gebraucht wird. Mit dem Einzug der Computer im Jahr 1993 wurden die Grafiken nun mit „Macs“ erstellt. Die Erfindung des iPhones brachte ab 2007 den nächsten Schub. Die Vermittlung von Wissen mithilfe von Grafiken musste neu durchdacht werden, weil auf den kleinen Bildschirmen weniger Platz war, aber viel Inhalt untergebracht werden musste. 2012 veröffentlichte Jan Schwochow gemeinsam mit dem Wirtschaftsjournalisten Ralf Grauel das Buch „Deutschland verstehen“, das einen Infografik-Bücher-Boom auslöste.
Infografiken in der Nachhaltigkeitskommunikation
Wirtschaft und Wissenschaft stehen häufig vor der Herausforderung, ihre Themen in Bezug auf Nachhaltigkeit einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Infografiken tragen dazu bei, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt begreifbar zu machen, indem Fakten und Zahlen in Bilder, Symbole und Geschichten übersetzt werden. Die Buchgestalterin und Infografikerin Esther Gonstalla, die vor allem für NGOs wie Brot für die Welt, BUND, Mehr Demokratie und Fair Oceans tätig ist, befasst sich in ihren Büchern mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Klimawandel und zeigt vielfältige Lösungsvorschläge, von politischen Forderungen bis zu Tipps für den eigenen Alltag. Mit Unterstützung zahlreicher namhafter Wissenschaftler verarbeitet sie komplexe Zusammenhänge und wissenschaftliche Daten zur globalen Erwärmung zu leicht verständlichen Illustrationen. Jeder Grafik sind Erläuterungen zugeordnet, die erklären, was das Bild in seiner scheinbaren Einfachheit zeigt. In ihrem Buch „Was wäre, wenn …“ präsentiert sie nicht nur überraschende Fakten, sondern zieht auch ungewöhnliche Vergleiche und entwirft Gedankenspiele zu drängenden Zukunfts-Umwelt-Fragen.
Mit den Zahlen schafft sie Transparenz, Verlässlichkeit und Beweise. Ihr ist allerdings bewusst, dass, wer sich nur an Zahlen orientiert, auch sein Sichtfeld einschränkt. Es braucht eine kreative Einbettung, um unser Verhalten, unsere Entscheidungen, unser Denken und Fühlen zu beeinflussen. Würde zum Beispiel jede/r nur die Kleidungsstücke besitzen, die er oder sie trägt, könnte die Textilindustrie 62 Prozent weniger produzieren. Wird vorher überlegt, was aus dem Kühlschrank geholt werden soll, kann man mit dem eingesparten Strom die Waschmaschine jede Woche einmal laufen lassen.
Auch dem Buch „Kleine Gase – Große Wirkung: Der Klimawandel“ von David Nelles und Christian Serrer ist es gelungen, die globale Erwärmung mit kurzen Texten und vielen Grafiken verständlich auf den Punkt zu bringen. Unterstützt wurden sie dabei ebenfalls von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Als Studenten saßen sie in der Mensa ihrer Uni und diskutierten über die globale Erwärmung. Um Antworten auf ihre Fragen zu finden, hatten sie wenig Lust, dicke Fachbücher zu lesen. Sie waren auf der Suche nach einem Buch, das anschaulich, wissenschaftlich fundiert und mit kurzen Texten das A und O des Klimawandels erklärt. Ihre Suche endete erfolglos - und so entschieden sie sich, es selbst zu schreiben.
Auch Ole Häntzschel und Matthias Stolz verarbeiten seit vielen Jahren Nachhaltigkeitsthemen zu Infografiken: Als sie sich im Frühsommer 2016 für ihr Buch „Atlas der unbequemen Wahrheiten“ entschieden, war Trump noch nicht US-Präsident, und der Brexit war noch nicht entschieden. „Aber jeder wusste schon: Die Welt könnte sich verdüstern.“ Beide hatten das Gefühl, dass sie ein Buch über Fakten machen sollten. Ihre Infografiken können ebenfalls helfen, „einen bedauerlichen Zustand auf einen Blick verständlich zu machen.“
Die Rolle von Infografiken in Nachhaltigkeitsberichten
Eine Auseinandersetzung mit Infografiken im Nachhaltigkeitsbereich ist sehr wichtig, denn ihre interne Entstehung sagt auch viel über das Unternehmen selbst aus: Wie wird das Wesentliche hier gefunden? Warum erscheinen bestimmte Inhalte als Infografik und nicht als Text? Was haben sich die Gestalter dabei gedacht, und welchen Weg sind sie gegangen? Wie finden Inhalt und Form vor allem in Nachhaltigkeitsberichten zusammen? Infografiken transportieren beispielsweise visuell und emotional die Stakeholdergruppen des Unternehmens, Ziele für nachhaltige Entwicklung und Maßnahmen sowie Themen wie Umsatzentwicklung, Risikotypen für das Unternehmen, Papier- und Stromverbrauch, Altersstruktur. Doch das eigene komplexe Kerngeschäft verständlich im Nachhaltigkeitskontext zu visualisieren ist eine enorme Herausforderung und ein stetiger Lernprozess.
Ein Vergleich vom Einsatz solcher Infografiken in Nachhaltigkeitsberichten kann bereichernd sein, denn sie zeigen, wie ernst Unternehmen die Leser ihrer Publikationen nehmen. Zu viele Worte erwecken häufig Misstrauen und können nie eine nachhaltige Wirkung erzielen. Doch wer seine Themen und Fakten auf den Punkt genau vermitteln kann, hat sie auch verstanden. Sophie Heins geht in ihrer designrhetorischen Studie „Vom Ethos in Nachhaltigkeitsberichten“ deshalb der Frage nach, mit welchen visuell-rhetorischen Mitteln Glaubwürdigkeit in Nachhaltigkeitsberichten erzeugt wird. Als Kommunikationsdesignerin interessieren sie vor allem Fragen zur Konzeption und Gestaltungspraxis von Nachhaltigkeitsberichten: Wie wird visuell argumentiert? Welche gestalterischen Mittel überzeugen in Nachhaltigkeitsberichten und welche bewirken eher das Gegenteil? Dazu analysiert sie die Wirkungen der Designelemente sowie ihr Zusammenspiel und stellt visuelle Argumentationsarten vor, die eine neue Sicht auf Nachhaltigkeitsberichte ermöglichen. Ihre These: Nachhaltigkeitsberichte argumentieren auf der visuellen Ebene vor allem mithilfe von ethos, „also mit der Darstellung eines tugendhaften Charakters, wobei diese Argumentation durch sachlich-logische und emotionale Elemente (logos und pathos) gestärkt wird.“ Zudem geht sie darauf ein, wie sich die Gestaltung von Nachhaltigkeitsberichten historisch entwickelt hat und veranschauliche dies am Beispiel zweier Konzerne, um das heutige Design von Nachhaltigkeitsberichten beurteilen und besser einordnen zu können.
Der Ruf nach Einfachheit in der Unternehmens- und Nachhaltigkeitskommunikation ist heute nicht nur ein Postulat, sondern eine unbedingte Notwendigkeit. Wer hier nicht in der Lage ist, zu fokussieren, wird auch nicht wahrgenommen und verstanden.
Weiterführende Literatur:
- Esther Gonstalla: Was wäre, wenn ... Unsere Welt in verblüffenden Grafiken. Oekom Verlag, München 2024.
- Esther Gonstalla: Das Klimabuch. Über die Erwärmung des Planeten. Oekom Verlag, München 2019.
- Ole Häntzschel und Matthias Stolz: Atlas der unbequemen Wahrheiten. 99 Infografiken. Droemer Knaur 2017.
- Sophie Heins: Vom Ethos in Nachhaltigkeitsberichten. Wie wird Glaubwürdigkeit visuell dargestellt? Eine designrhetorische Analyse. trancsript Verlag, Bielefeld 2022.
- Jens Müller, Julius Wiedemann: Geschichte des Grafikdesigns. Band 2, 1960 bis heute. TASCHEN Verlag 2018.
- David Nelles und Christian Serrer: Kleine Gase – Große Wirkung: Der Klimawandel. Selbstverlag, Friedrichshafen 2018.
- Sandra Rendgen, Ed. Julius Wiedemann: History of Information Graphics. TASCHEN Verlag, Köln 2019 (Deutsch, Englisch, Französisch).
- Jan Schwochow: Die Welt verstehen in 264 Infografiken. Prestel Verlag, München 2020.
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