§ 35b EStG: Schuldlose Überschreitung des Begünstigungszeitraums

Die Gewährung der Steuerermäßigung nach § 35b EStG setzt voraus, dass bei der Ermittlung des Einkommens Einkünfte berücksichtigt worden sind, die im Veranlagungszeitraum oder in den vorangegangenen 4 Veranlagungszeiträumen als Erwerb von Todes wegen der Erbschaftsteuer unterlegen haben.

Sind bei der Ermittlung des Einkommens Einkünfte berücksichtigt worden, die im Veranlagungszeitraum oder in den vorangegangenen 4 Veranlagungszeiträumen als Erwerb von Todes wegen der Erbschaftsteuer unterlegen haben, so wird auf Antrag die um sonstige Steuerermäßigungen gekürzte tarifliche Einkommensteuer, die auf diese Einkünfte entfällt, um einen bestimmten Prozentsatz ermäßigt.

Das FG Hamburg hat sich mit der Frage beschäftigt, ob bei einer schuldlosen Überschreitung des Begünstigungszeitraums die Steuerermäßigung ausgeschlossen ist.

Beispiel: Erbschein erst nach 6 Jahren

A ist Alleinerbe der in 2013 verstorbenen B, von der er 3 Beteiligungen erbte. Da im Todeszeitpunkt der B mehrere Testamente existierten, kam es zu einer rund sechs Jahre andauernden gerichtlichen Erbenermittlung. Erst mit Erbschein vom 1.4.2019 wurde A zum Alleinerben bestimmt. Ein halbes Jahr später wurde gegen ihn Erbschaftsteuer festgesetzt. Mit Wirkung zum 1.1.2020 veräußerte er die Beteiligungen und erzielte hierbei einen Veräußerungsgewinn. Aufgrund der hieraus erzielten steuerpflichtigen Einkünfte machte A im Rahmen der Einkommensteuererklärung 2020 sodann eine Steuerermäßigung bei Belastung mit Erbschaftsteuer nach § 35b EStG geltend.  

Finanzamt bezieht sich auf Wortlaut

Das Finanzamt war im Rahmen eines Klageverfahrens vor dem FG Hamburg der Ansicht, dass nach dem Wortlaut des § 35b EStG ein Anspruch auf Steuerermäßigung nur insoweit bestehe, wie die jeweiligen Einkünfte im Veranlagungszeitraum oder in den vorangegangenen 4 Veranlagungszeiträumen als Erwerb von Todes wegen der Erbschaftsteuer unterlegen haben. Der 5-jährige Begünstigungszeitraum beginne dabei gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG grundsätzlich mit dem Tod des Erblassers. Aufgrund des klaren Wortlauts im Hinblick auf den Begünstigungszeitraum sei die Norm nicht auslegungsfähig.

Teleologische Auslegung

Der Kläger stimmt im Urteilsfall dem Finanzamt insoweit zu, dass für den Begünstigungszeitraum grundsätzlich der Zeitpunkt der Entstehung der Erbschaftsteuer entscheidend sei und nicht der verfahrensrechtliche Stand des Erbfalls, sodass die Entstehung der Steuer und damit der Beginn des Begünstigungszeitraums beim Erwerb von Todes wegen mit dem Tod des Erblassers erfolge.

Dies würde Steuerpflichtige - wie hier - jedoch stets von einer Steuerermäßigung ausschließen, da die Veräußerungsgewinne erst nach mehr als 6 Jahren und damit außerhalb des Begünstigungszeitraums erzielt wurden und erzielt werden konnten. So sei der geregelte 5-jahreszeitraum lediglich aus Vereinfachungsgründen eingeführt worden, um eine Vielzahl von Fällen abzubilden, für deren Erledigung eine derartige Frist ausreicht. Wenn es jedoch der Steuerpflichtige nachweislich nicht in der Hand gehabt habe, auf die Sachverhaltsgestaltung einzuwirken, sei die Norm teleologisch dahingehend auszulegen, dass die 5-Jahresfrist um den Zeitraum der fehlenden Verfügungsgewalt verlängert werde.

Andernfalls läge durch die Doppelbesteuerung mit Erbschaft- und Einkommensteuer eine verfassungsrechtlich verbotene Übermaßbesteuerung vor und zwar ohne die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit des Steuerpflichtigen, diese durch die Inanspruchnahme der Vorschrift des § 35b EStG zu verhindern.

Auch FG gewährt keine Ermäßigung

Diese Auffassung teilt das FG Hamburg nicht (Urteil v. 23.08.2021, 1 K 305/19). Die hier grundsätzlich berücksichtigungsfähigen Einkünfte wurden außerhalb des Begünstigungszeitraums des § 35b EStG erzielt und damit außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs der Norm. Der Wortlaut der Norm sei zwar insoweit auslegungsbedürftig, als nicht eindeutig ist, in welchem Zeitpunkt die Einkünfte der Erbschaftsteuer in diesem Sinne "unterlegen" haben.

Nach Auffassung des FG ist § 35b Satz 1 EStG aber dahingehend auszulegen, dass die Einkünfte in dem Zeitpunkt der Erbschaftsteuer unterlegen haben, in dem die Erbschaftsteuer rechtlich entstanden ist. Dies sei der Todestag der Erblasserin. Der Todestag des Erblassers muss daher in den Veranlagungszeitraum der begünstigungsfähigen Einkünfte oder in die vorangehenden vier Veranlagungszeiträume fallen, damit die Steuerermäßigung geltend gemacht werden kann. Auf den Zeitpunkt der Festsetzung der Erbschaftssteuer, der Erlangung der tatsächlichen Verfügungsgewalt über den Nachlass oder der Zahlung der Erbschaftsteuer komme es hingegen nicht an.

An dieser Auffassung ändere auch die Frage des Verschuldens nichts, da dieser Aspekt im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 35b EStG keine Rolle spiele. Auch eine Doppel- oder Übermaßbesteuerung sieht das FG nicht als verfassungswidrig an. Zum einen habe die Rechtsprechung auch ohne eine Ausgleichsmöglichkeit die Doppelbelastung im Hinblick auf die unterschiedlichen Besteuerungsgegenstände von Einkommen- und Erbschaftsteuer als verfassungsgemäß angesehen und zum anderen sei ihr auch kein Gebot zu entnehmen, dass Steuern auf das Einkommen und die Erbschaftsteuer auf höchstens 50 % des Gesamtbetrags der Einkünfte oder des zu versteuernden Einkommens zu begrenzen sind.

Revisionsverfahren beim BFH anhängig

Das FG Hamburg hat die Revision gegen sein Urteil zugelassen, weil der zeitliche Anwendungsbereich des § 35b EStG sowie die besondere Fallkonstellation einer unverschuldeten Unmöglichkeit der Beantragung der Steuerermäßigung durch den Steuerpflichtigen innerhalb des Begünstigungszeitraums bislang nicht Gegenstand der Rechtsprechung waren. Das FG hat nämlich auch darauf hingewiesen, dass der Wortlaut des § 35b Satz 1 EStG allein nicht ergiebig ist, da der Begriff "unterliegen" nicht zeitpunktbezogen ist und somit auch andere Anknüpfungspunkte, etwa die Festsetzung der Erbschaftsteuer oder das Erlangen der Verfügungsgewalt über den Nachlass, umfassen könnte. Vergleichbare Fälle sollten daher offen gehalten werden, bis der BFH (X R 20/21) entschieden hat.