Komplementäre Führung: Warum wir Führungsmodelle brauchen

Egozentrische Manager in scheindemokratischen Unternehmen? Selbstführung ohne Wegweiser? Wir haben mit dem Managementexperten Boris Kaehler über seine Theorie der Komplementären Führung und über das Führen als Dienstleistung gesprochen.

Haufe Online-Redaktion: Herr Professor Kaehler, Sie sind Begründer der "Komplementären Führungstheorie", die Sie in Ihrem aktuellen Buch nun weiter ausgearbeitet haben. Was verstehen Sie unter "Komplementärer Führung"?

Boris Kaehler: Die Komplementäre Führungstheorie kann und soll als Strukturvorlage für die Entwicklung betrieblicher Führungsmodelle dienen – dafür habe ich sie entwickelt. Unternehmen richten ihre Führungspraxis also nicht nach dem Lehrbuch aus, sondern leiten im Rahmen eines Konzeptions- und Implementierungsprojekts ihr eigenes Führungsmodell daraus ab. Wenn dieses unternehmensspezifische Modell dann noch als Komplementäre Führung gelten soll, muss es mindestens die grundlegenden Strukturelemente der Theorie aufgreifen, ohne die Personalführung meines Erachtens schlicht nicht funktioniert. Diese Strukturelemente umfassen erstens den Leitgedanken des Führens als Dienstleistung mit Ordnungs- und zugleich Unterstützungsfunktion. Zweitens einen Katalog von Führungsaufgaben im Sinne von zu bewältigenden Aufgaben. Davon abzugrenzen sind die Führungsaktivitäten, die ich Routinen nenne. Mit diesen Routinen sollen die zuvor definierten Führungsaufgaben umgesetzt werden.

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Eine bestimmte Aufgabe, zum Beispiel Arbeitsziele zu definieren, bedarf einer Aktivität von Seiten der Führungskraft, etwa eines Gesprächs. Dieser Prozess kann wiederum durch formalisierte Instrumente, zum Beispiel Formulare oder Prozessbeschreibungen, also bestimmte Hilfsmittel, unterstützt werden. Ohne die Unterscheidung von Führungsaufgaben, Führungsroutinen und Führungsinstrumenten kann man Personalführung eigentlich nicht sinnvoll beschreiben oder gestalten. Das dritte Kernelement Komplementärer Führung sind die komplementären Akteure, denn Führung ist ein kollektives Geschehen. Es gilt das Primat der Selbstführung, also der Vorrang der Selbst- gegenüber der Fremdführung. Führungskräfte sollten Dienstleister gegenüber selbstverantwortlichen Mitarbeitern sein und nur dann ordnend oder unterstützend eingreifen, wenn Selbstführungsdefizite auftreten – dazu sind sie allerdings verpflichtet.

Haufe Online-Redaktion: Selbstführung ist ein Stichwort, das oft im Zusammenhang mit den Softwareunternehmen aus dem Silicon Valley fällt. Die scheinbar wenig hierarchischen Organisationsmodelle dieser Unternehmen werden zurzeit viel diskutiert. Brauchen wir ein grundlegendes Umdenken in der Führung, wie es vielerorts gefordert wird?

Kaehler: Ja, ein grundlegendes Umdenken wäre tatsächlich wünschenswert, aber nicht so, wie es aktuell überall gepredigt wird. Personalführung verbessert man nicht durch Laissez-faire und gefälliges Gerede von Agilität, Vertrauen oder Demokratisierung, sondern durch systematische Gestaltung der Rahmenbedingungen. Die von Ihnen angesprochene Hierarchieproblematik ist ein schönes Beispiel dafür, wie unreflektiert oft diskutiert wird. Eine Hierarchie ergibt sich durch Über- und Unterordnung von Organisationseinheiten. Je weniger Ebenen bei gleicher Mitarbeiterzahl, desto größer die Leitungsspannen, also die Zahl der Mitarbeiter, die einer Leitungsstelle, einer Führungskraft, unterstellt sind. Mit diesen breiten Leitungsspannen kann man bekanntlich übertreiben. Flache Hierarchien sind deshalb oft genug dysfunktionale Hierarchien.

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Die Hierarchiekritiker argumentieren daher in der Regel auch gar nicht mit diesen Zusammenhängen, sondern plädieren für eine geringe Machtdistanz, hohe Entscheidungspartizipation und offene Kommunikationskultur – das sind aber völlig andere Sachverhalte! Der Lobgesang darauf dient dann de facto trotzdem nicht selten als Vorwand für das rein kostengetriebene Schleifen von Hierarchien. Ganz ähnlich liegt es mit der Agilität, die heute als Schlagwort in keinem Führungskonzept mehr fehlen darf. Sofern mit diesem Modebegriff überhaupt irgendetwas Spezifisches gemeint ist, geht es um maximale Flexibilität, Selbstbestimmung und Arbeitsteilung. Dabei werden Schwachstellen und auch die Abhängigkeiten dieser Aspekte von Situationsvariablen völlig ignoriert.

Haufe Online-Redaktion: Für die neue Auflage Ihres Buchs haben Sie die Defizite der Personalführung in der Praxis untersucht. Wo liegen die schwerwiegendsten Probleme?

Kaehler: Natürlich ist jede Organisation diesbezüglich unterschiedlich. Generalisierend lässt sich jedoch sagen, dass es Führenden noch immer an Zeit zum Führen mangelt. Personalführung ist kein Hobby, das sich nebenbei erledigen lässt. Dem muss man bei der Gestaltung von Führungsstellen und der Anleitung von Führungskräften Rechnung tragen. Weit verbreitet ist außerdem immer noch das "Stromberg"-Syndrom: Der Chef beglückwünscht sich selbst zu seinen Visionen, seiner Werteorientierung und seiner transformational-agilen Führungsphilosophie – er hält sich für den Größten. De facto aber handelt er rein selbstreferenziell als Optimierer seiner Eigeninteressen. Jeder um ihn herum weiß natürlich auch, dass er nicht das Geringste zum Arbeitserfolg seiner Mitarbeiter beiträgt. Das ist tragisch.

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Haufe Online-Redaktion: Kann Ihr Ansatz hier helfen?

Um die "Strombergs" – unter denen natürlich auch Damen sind – entweder zu wirksamen Führungskräften zu machen oder wirksam aus ihrer Position zu entfernen, reicht in der Regel schon die Normierung der Dienstleistungsidee: "Du bist nicht für Dich da, sondern für die anderen." Das beinhaltet unter anderem, für Ordnung zu sorgen, nicht aber, sich als kleiner König zu gerieren. In vielen Berufen hat diese Maxime schon Erstaunliches bewirkt – es ist an der Zeit, auch Führung so zu organisieren. Das tiefer liegende Problem mit Führung ist freilich, dass selbst Experten, erst recht aber die Praktikerinnen und Praktiker, also Führende und Führungskräfteentwickler, völlig unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was Personalführung überhaupt ist und bewirken soll. Genau deshalb brauchen Organisationen betriebliche Führungsmodelle, die die für sie maßgeblichen Führungsregelungen klar und konsistent zusammenfassen. Natürlich gibt es fast überall auch gute Führungskräfte. Flächendeckend ist hohe Führungsqualität aber nur über eindeutige normative Vorgaben zu erreichen.

Haufe Online-Redaktion: Wie können die Personalabteilungen an der Entwicklung entsprechender Führungsmodelle mitwirken?

Kaehler: Auf dem Feld des normativen Managements spielen die Personaler in der Regel eine wichtige Rolle bei der Konzeption des eben schon angesprochenen betrieblichen Führungsmodells. Auf dem Feld des strategischen Managements gestalten sie normalerweise die Personalstrategie, die eng mit der Unternehmensstrategie verknüpft sein sollte. Auf dem Feld des operativen Managements sind sie meist federführend für die Entwicklung und Administration der Personalinstrumente verantwortlich, vor allem aber für die Personalbetreuung. In dieser operativen Personalbetreuung, die ich als "Co-Führung" oder "Co-Management" bezeichne, liegt für mich der Schlüssel zur Wirksamkeit der organisationalen Personalführung insgesamt. So wie das Selbstmanagement des Mitarbeiters absicherungshalber einer kompensatorischen Instanz, nämlich der Führungskraft, bedarf, so bedarf die Führungskraft ihrerseits übergeordneter kompensatorischer Instanzen. Das sind die obere Führungskraft und der Personalbetreuer, die bei Defiziten eingreifen. Und zwar wiederum nur dann! Alle guten Personalbetreuer, die ich kenne – und als ehemaliger Personalbetreuer kenne ich viele – nehmen diese Rolle wahr, aber die wenigsten dürfen es offen aussprechen. Das möchte ich ändern.


Prof. Dr. Boris Kaehler ist Hochschullehrer für Personalmanagement und Führungsexperte. Er war zehn Jahre als Personalreferent und Personalleiter in Tochterunternehmen großer deutscher Konzerngesellschaften tätig und ist nebenberuflich als HR-Strategieberater aktiv.

Mehr zu seinem Theoriemodell der Führung.


Das Interview führte Benjamin Jeub.

Schlagworte zum Thema:  Mitarbeiterführung, Leadership