Unterschätztes Risiko: Prokrastination im Arbeitsschutz

Prokrastination betrifft nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Unternehmen. Besonders Arbeitsschutzthemen werden häufig aufgeschoben, was zu erhöhten Risiken und Kosten führt. Die Eisenhower-Matrix kann helfen, Prioritäten richtig zu setzen und fahrlässiges Aufschieben zu vermeiden.

Das Aufschieben (Verschieben) von anstehenden Aufgaben, Tätigkeiten oder Pflichten wird Prokrastination genannt, umgangssprachlich auch als „Aufschieberitis“ bekannt. Ungeliebte Aufgaben werden gerne verschoben. Unternehmen schieben Unangenehmes oft aus den gleichen Gründen auf wie Menschen.

Prokrastination ist auch organisatorisches Problem

Ein Unternehmen ist keine abstrakte, emotionslose Maschine. Unternehmen sind Zusammenschlüsse von Individuen, die täglich Entscheidungen treffen müssen Sie bestehen aus Menschen – und Menschen neigen dazu, unangenehme oder komplexe Aufgaben bzw. Pflichten aufzuschieben. Daher neigen auch Unternehmen dazu, schwierige Themen zu verdrängen, solange kein äußerer Druck besteht. Das bedeutet, Prokrastination ist nicht nur ein individuelles, sondern immer auch ein organisatorisches Problem.

Arbeitsschutz wird in vielen Unternehmen als eine solche ungeliebte Aufgabe und Pflicht betrachtet. Ungeliebte Aufgabe und Pflichten werden gerne aufgeschoben. Hinzu kommen psychologische Mechanismen der Prokrastination auf Unternehmensebene. Diese werden auch häufig zu Argumenten verwandelt, um Arbeitsschutz aufschieben.

Psychologische Mechanismen der Prokrastination kommen auch in Unternehmen vor

Die psychologischen Ursachen von Prokrastination, die für Einzelpersonen gelten, finden sich auch in Unternehmen beim Thema Arbeitsschutz:

Kurzfristiges Denken

Unternehmen konzentrieren sich oft auf schnelle Erfolge. Maßnahmen, die kurzfristig Kosten oder Aufwand verursachen, werden verschoben, selbst wenn sie langfristig notwendig wären. Erschwerend kommt hinzu, dass langfristige Maßnahmen oft schwer messbar sind, wie präventiver Arbeitsschutz, und daher auch verschoben werden.

Kein direkter Nutzen

Arbeitsschutzmaßnahmen sind Ausgaben, denen keine sofort sichtbaren finanziellen Gewinne gegenüberstehen. Unternehmen priorisieren oft Produktivität und Effizienz statt präventiver Sicherheit und Gesundheit. Stehen wirtschaftliche Ziele wie Umsatz und Effizienz im Vordergrund, wird Arbeitsschutz als zweitrangig betrachtet und nach hinten verschoben.

Fehlende Dringlichkeit/Sichtbarkeit und falsche Prioritätensetzung

Unternehmen bewegen sich immer noch oft im reaktiven Bereich mit Sätzen wie: „Da passiert schon nichts“. Mit einer derartigen Einstellung lassen sich Maßnahmen leichter verschieben. Viele Arbeitsschutzmaßnahmen betreffen präventive Sicherheit – also Dinge, die sich erst langfristig auszahlen. Wenn kein akuter Unfall oder keine Kontrolle ansteht, kann der Eindruck entstehen, dass eine Aufgabe nicht dringend ist. Ein Unfall, der nicht passiert ist, wird als theoretisches Problem angesehen.

Bürokratie und lästiger Verwaltungsaufwand

Arbeitsschutzmaßnahmen werden als „Zeitfresser“ wahrgenommen, die von den eigentlichen Aufgaben abhalten. Gefährdungsbeurteilungen, Protokolle, Audits u. v. m. sind für viele nur lästige Papierarbeit. Hinzu kommt eine gewisse Komplexität dieser Themen, die ein Aufschieben auch begünstigt.

Vermeidung unangenehmer Entscheidungen

Führungskräfte zögern bei der Umsetzung von Maßnahmen (z. B. strengere Sicherheitsvorschriften,), weil diese möglicherweise unpopulär oder „unwirtschaftlich“ sind und z. B. die bisherigen Arbeitsprozesse verlangsamen.

Komplexe oder unangenehme Gespräche werden vermieden

Fachkräfte für Arbeitssicherheit müssen oft unangenehme Themen ansprechen. Dabei kann es zu Konflikten und heiklen Gesprächen kommen, die gerne hinausgezögert werden. Gründe dafür:

  • Angst vor negativen Reaktionen und sich verschlechternden Beziehungen
  • Mangelndes Durchsetzungsvermögen & Unsicherheit
  • Hoffnung, dass sich das Problem „von selbst“ löst
  • Fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte
  • Zeitmangel und andere Prioritäten

Beispiel: Die Fachkraft für Arbeitssicherheit bemerkt, dass Führungskräfte aufgrund von Mängeln in der Führung die Regeln nicht einhalten und es daher zu Verstößen gegen Sicherheitsregeln kommt – und schiebt das Gespräch mit den Führungskräften vor sich her.

Überlastung und Zeitmangel

Beschäftigte, Arbeitsschutzkräfte und Führungskräfte haben oft viele verschiedene Aufgaben und sind für mehrere Standorte oder Abteilungen zuständig. Wichtige, aber nicht dringende Aufgaben werden dann nach hinten geschoben.

Perfektionismus – Ich brauche noch mehr Infos“

Länger und perfekt, statt 80/20. Anstatt eine gute, umsetzbare Lösung bzw. Maßnahme pragmatisch zu starten und schrittweise nachzubessern, wird oft nach der „perfekten Strategie“ gesucht, weiter recherchiert und geprüft – und dadurch verzögert sich alles, bis es zu spät ist. Ursachen liegen auch in psychologisches Gründen wie Angst vor Versagen und Unsicherheiten, ggf. nicht fundiert und rechtlich abgesichert zu sein.

Unklare Verantwortlichkeiten

Wenn nicht klar ist, wer für eine Aufgabe oder Entscheidung zuständig ist, fühlt sich oft niemand verantwortlich – und die Aufgabe bleibt unerledigt bzw. es passiert nichts Aktives.

Organisationale Trägheit und komplexe Strukturen

Unternehmensbürokratie verhindert oft schnelle Entscheidungen Viele Arbeitsschutzmaßnahmen bzw. -projekte erfordern Genehmigungen, Freigaben oder Abstimmungen auf mehreren Ebenen. Kommen dazu noch unklare Erwartungen bzw. eine fehlende Planung, wird das Ziel mit wenig Umsetzungsbereitschaft und Ehrgeiz verfolgt. Das führt dazu, dass sich alles verzögert.

Motivationsmangel

Fehlendes Interesse oder Unklarheit über den Sinn von Arbeitsschutz führen dazu, Aufgaben, Tätigkeiten oder Pflichten aufzuschieben.

Gewohnheiten und Traditionen

„Das haben wir immer schon so gemacht“ ist wohl das meistgenutzte Argument gegen Veränderungen und ein häufiger Grund für Prokrastination.

„Es ist noch nichts passiert“ – Wenn bisher keine Unfälle oder Zwischenfälle aufgetreten sind, wird die Dringlichkeit von Arbeitsschutzmaßnahmen oft unterschätzt.

„Das hat doch immer so funktioniert“ – Gewohnheit führt dazu, dass Sicherheitsmaßnahmen hinausgezögert oder ignoriert werden.

Widerstand von Kollegen und Führungskräften

Veränderungen bedeuten oft mehr Arbeit oder Unsicherheit für die Beschäftigten. Wenn Vorgesetzte oder Kollegen Arbeitsschutzmaßnahmen als „lästig“, zusätzliche Arbeit oder Einschränkungen empfinden und mit Widerstand reagieren, wird der „Kampf“ für jede Fachkraft für Arbeitssicherheit ermüdend.

Beispiel: Soll eine neue PSA eingeführt werden, aber die Beschäftigten weigern sich, dies mitzutragen, wird die Umsetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgeschoben.

Wenig Kontrollen und mangelnde Konsequenzen

Wenn keine regelmäßigen Überprüfungen oder klare negativen Folgen für das Aufschieben existieren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Aufgaben hinausgezögert werden. Ohne äußeren Druck fehlen oft die Dringlichkeit und Verbindlichkeit, aktiv zu werden.

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Eisenhower-Matrix erleichtert Verständnis

Die Eisenhower-Matrix ist ein hilfreiches Werkzeug, um zu verstehen, warum in Unternehmen unangenehme Aufgaben, insbesondere im Arbeitsschutz, oft aufgeschoben werden. Sie kann auch dabei helfen, Prioritäten richtig zu setzen und fahrlässiges Aufschieben zu erkennen.

Sie teilt Aufgaben in vier Kategorien ein:

Dringend

Nicht dringend

Wichtig

(A) Sofort erledigen
→ Akute Gefahren beseitigen
→ Unfallmeldungen bearbeiten
→ Sofortige Schutzmaßnahmen umsetzen

(B) Terminieren & planen 
→ Arbeitsschutzschulungen
→ Gefährdungsbeurteilungen
→ Präventive Wartung
→ Sicherheitskultur entwickeln

Unwichtig

(C) Delegieren
→ Kleine Reparaturen
→ Routinekontrollen durch Fachpersonal

(D) Eliminieren / Ignorieren
→ Übermäßige Bürokratie
→ Unnötige Meetings ohne Sicherheitsrelevanz

Kategorie B: Wichtig, aber nicht dringend → Aufschieben

  • Viele Arbeitsschutzmaßnahmen und Präventionsstrategien fallen in diesen Bereich.
  • Da sie nicht sofort dringend sind, sondern langfristig wirken, werden sie nicht priorisiert.
  • Beispiel: Investitionen in ergonomische Arbeitsplätze oder Sicherheitskultur wirken erst später, daher werden sie vertagt.

Kategorie A: Wichtig & dringend → Krise!

  • Erst wenn ein Unfall passiert, eine Kontrolle ansteht oder womöglich eine Klage eingereicht wurde, rutscht der Arbeitsschutz von B nach A.
  • Dann muss schnell reagiert werden – oft unter Stress fehlerbehaftet, mit höherem Aufwand und Kosten, und am Ende kommt dann trotzdem die Strafe.

 Kategorie C: Dringend, aber nicht wichtig → Ablenkung

  • Viele Unternehmen kümmern sich um kurzfristige Probleme, statt strategisch zu denken.
  • Beispiel: Ein Produktionsstopp wegen Maschinenausfall wird sofort behoben, aber die langfristige Wartung der Maschinen wird vernachlässigt.

Kategorie D: Weder dringend noch wichtig → Ignorieren

  • Unangenehme, aber scheinbar „überflüssige“ Aufgaben werden hier eingeordnet – oft zu Unrecht!
  • Beispiel: „Wir hatten seit Jahren keine Kontrolle – warum sich jetzt um Arbeitsschutz kümmern?“

„Et hätt noch immer jot jejange“

Der Kölner Spruch „Et hätt noch immer jot jejange“ (hochdeutsch: „Es ist noch immer gut gegangen“) steht für die rheinische Gelassenheit. Egal, wie aussichtslos eine Situation scheint, am Ende wird sich schon alles fügen. Doch während diese Mentalität oft mit Optimismus und Lebensfreude verbunden wird, kann sie auch eine Schattenseite haben: Prokrastination. Der Kölner Spruch kann in diesem Zusammenhang als mentale Beruhigungspille wirken: Man schiebt Dinge auf, weil man sich darauf verlässt, dass es am Ende schon passt – notfalls unter Zeitdruck. Im Arbeitsschutz ist es eine fatale Mentalität.

Prokrastination im Arbeitsschutz kann gefährlich werden

Wenn Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter den Arbeitsschutz aufschieben, kann das schwerwiegende Konsequenzen haben.

Erhöhtes Unfall- und Verletzungsrisiko:

  • Sicherheitsmängel, die nicht rechtzeitig behoben werden, können zu Arbeitsunfällen, Verletzungen oder sogar Todesfällen führen.
  • Beispiel: Eine rutschige Treppe wird nicht sofort repariert – ein Mitarbeiter stürzt und verletzt sich schwer.

Rechtliche & finanzielle Konsequenzen:

  • Unternehmen sind gesetzlich verpflichtet, Arbeitsschutzmaßnahmen umzusetzen.
  • Verzögerungen können zu Bußgeldern, Schadenersatzforderungen oder sogar Betriebsschließungen führen.
  • Beispiel: Eine ungeprüfte Maschine verursacht einen Unfall – das Unternehmen haftet für die Folgekosten.

Produktivitätsverluste:

  • Fehlende Sicherheitsmaßnahmen führen zu Arbeitsausfällen durch Verletzungen oder Krankmeldungen.
  • Unfälle können zu Maschinenschäden oder Produktionsstopps führen.

Schlechte Unternehmenskultur und Motivation:

  • Mitarbeiter fühlen sich unsicher und nicht wertgeschätzt, wenn der Arbeitsschutz nicht ernst genommen wird.
  • Folge: Sinkende Arbeitsmoral, höhere Fluktuation und mehr Fehlzeiten.

Reputationsschäden:

  • Medienberichte über Unfälle oder Sicherheitsverstöße können den Ruf des Unternehmens dauerhaft schädigen.
  • Kunden und Partner könnten das Vertrauen verlieren – und sich für sicherere Anbieter entscheiden.

Notfall statt Prävention – höhere Kosten:

  • Wer Sicherheitsmaßnahmen aufschiebt, muss später oft mehr Geld für Notlösungen oder Schadensregulierungen zahlen.
  • Beispiel: Regelmäßige Wartung wäre günstig gewesen – durch einen Maschinenunfall entstehen hohe Reparaturkosten.

Methoden gegen Prokrastination im Arbeitsschutz

  • Übersicht und Gelassenheit bewahren, aber trotzdem frühzeitig handeln, d. h. präventiv handeln, statt auf Notfälle zu warten.
  • Große Aufgaben in kleine Schritte aufteilen, um Überforderung zu vermeiden. „Viele Hände, schnelles Ende“.
  • Kleine Schritte statt Perfektionismus – lieber eine 80 %-Lösung umsetzen als gar keine.
  • Den Spruch „Es ist noch immer gut gegangen“ als Erinnerung oder Gedächtnishilfe nutzen: Nicht „Alles wird schon irgendwie“, sondern „Wir können es schaffen, wenn wir uns dransetzen!“.
  •  Arbeitsschutz als Unternehmenswert und in der Unternehmenskultur etablieren.
  • Arbeitsschutz als Führungsaufgabe begreifen – Vorbild sein, statt abwarten, messbare Ziele setzen, klare Verantwortlichkeiten und mitarbeiterzentrierte Prozesse schaffen.
  • Schulungen praxisnah und interaktiv gestalten, für Beschäftigte und Führungskräfte Anreize für Teilnahmen schaffen.
  • Zeit für wichtige Aufgaben reservieren, bevor der Alltag sie verdrängt.
  • Konflikte aktiv angehen – Sicherheit darf kein Tabuthema sein.

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