Lieferketten-Sorgfalt

„Der Wildwuchs an Tools ist so nicht gewollt“


Interview Streibelt: LkSG-Tools

Der Helpdesk Wirtschaft und Menschenrechte hat eine Praxishilfe für Softwareeinsatz in Sorgfaltsprozessen veröffentlicht. Denn der Softwaremarkt entwickelt sich aus Sicht vieler Beobachterinnen und Beobachter in die falsche Richtung. Wir sprachen mit der Helpdesk-Beraterin Michaela Streibelt über die Hintergründe und Handlungsoptionen.

Frau Streibelt, aktuell boomen Tools für den Sorgfaltsprozess in Lieferketten. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

In Unternehmen hat sich bei dem Thema eine Art Automatisierungsfieber breit gemacht. Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz stellte sie vor neue Herausforderungen. Die Zeit war knapp, der Beratungsmarkt dünn, die Ressourcen begrenzt. Plötzlich sollte jeder ein LkSG-konformes Risikomanagement aus dem Hut zaubern. Dann kommt jemand mit einem Tool um die Ecke und sagt: „Schaut mal, hier ist die Lösung für all eure Probleme!“ Das klingt natürlich verlockend. Vor allem, wenn die Tools versprechen, die Sorgfaltspflichten nicht nur automatisiert, sondern auch rechtssicher abzunehmen.

Inwiefern bieten die verfügbaren Softwarelösungen für Unternehmen tatsächlich die versprochenen Vorteile?

Wenn man sie klug einsetzt, können Tools natürlich hilfreich sein und Effizienz in das Thema Sorgfaltspflichten hineinbringen – gerade bei großen Lieferantenzahlen. Hat ein Unternehmen beispielsweise 50.000 Tier-1-Zulieferer, kann es nicht alles händisch machen. Digitale Lösungen können dabei unterstützen, Prozesse zu standardisieren, Daten zusammenzuführen und Prioritäten zu setzen. Viele Tools nutzen Trackingsysteme oder Heatmaps, die erste Hinweise geben, wo Risiken lauern könnten. Das ist oft als Ampelsystem dargestellt, grün für geringes Risiko, gelb für erhöhtes und rot für die Hochrisikobereiche. Mithilfe der Tools können Unternehmen vor allem die Kommunikation mit den direkten Zulieferern verbessern – damit hören die Möglichkeiten aber meistens schon auf.

Welche Probleme oder Grenzen sehen Sie beim Einsatz von Tools?

Ein Riesenproblem ist die Datenqualität. Die Infos, die man aus einem Tool bekommt, sind häufig lückenhaft, alt oder schlicht unbrauchbar, vor allem wenn es um die tiefe Lieferkette, also indirekte Zulieferer oder informelle Strukturen geht. Kleinstbergbau, Feldarbeit, Heimarbeit – das sind die Bereiche, die hoch risikobehaftet sind, aber oft im Verborgenen bleiben.

Ein weiteres Problem: Viele Tools suggerieren, dass man nur an alle Lieferanten einen standardisierten Fragebogen schicken müsste – fertig ist der Sorgfaltsprozess. diese automatisierten Fragebögen, in denen Lieferanten bestätigen sollen, dass sie keine Kinderarbeit haben und alle Gesetze einhalten, sind inhaltlich oft völlig wertlos. Lieferanten bestätigen dann in der Regel, was sozial erwünscht ist. Und wer die Tools nutzt, merkt schnell, dass sie zusätzlich Aufwände erzeugen, weil sie nicht interoperabel sind. Alle wollen das Google des LkSG sein, also der eine Anbieter, den alle benutzen. Das führt dazu, dass man händisch Informationen hin und her kopieren muss.

Und was am verheerendsten ist: Das Automatisierungsversprechen verstellt die Sicht darauf, was man mit Sorgfaltsprozessen erreichen möchte. Statt ineffiziente Bürokratie digital aufzublähen, geht es doch darum, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Viele Tools, die ich mir angeschaut habe, scheinen überhaupt nicht verstanden zu haben, wie der risikobasierte Ansatz funktioniert.

Statt ineffiziente Bürokratie digital aufzublähen, geht es doch darum, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Tools werden der Komplexität realer Lieferketten oft nicht gerecht

Woran machen Sie das fest, dass Tools den risikobasierten Ansatz falsch interpretieren?

Viele gehen davon aus, dass Lieferketten linear sind – Tier eins, Tier zwei, dann Tier drei – und man einfach alles hintereinander eintragen kann. Das wird der Komplexität von realen Lieferketten nicht gerecht, die verschachtelt und dynamisch sind. In Wahrheit hängen bei einem direkten Zulieferer oft 30 weitere dran – und die ändern sich ständig. Viele Tools lassen einen wichtigen Aspekt außen vor: dass man nicht nur Daten vom direkten Vertragspartner braucht, sondern auch die Sichtweise von Rechteinhabenden. Also den Menschen, die wirklich von Risiken betroffen sind – nicht von denjenigen, die ein Interesse daran haben, dass alles gut aussieht.

Und was häufig außer Acht gelassen wird: Die eigene Verantwortung des Unternehmens. Tools schauen meist nur auf Zulieferer – aber der Hebel liegt häufig beim eigenen Einkaufsverhalten. Preis, Zeitdruck, Abnahmebedingungen – das sind oft die Ursachen für Missstände.

Welche Rolle spielen Kanzleien und Anwälte bei den Problemen von Tools?

Viele Tools werben damit, dass sie von renommierten Kanzleien rechtlich abgesegnet wurden. Das klingt natürlich gut. Aber was bedeutet das? Ein Tool kann doch nicht das Lieferkettengesetz erfüllen, denn dazu sind Maßnahmen erforderlich. Prüfen lässt sich nur, ob alle Punkte aus dem LkSG berücksichtigt sind, zum Beispiel in Fragebögen. Das ist aber nicht der eigentlich Sorgfaltsprozess, der immer außerhalb der Tools liegt. Viele Kanzleien folgen einer Compliance- und Kontrollkästchen-Kultur, die auf das Abhaken von Vorgaben und Regeln abzielt statt auf inhaltliche Qualität oder echte Problemlösung.

Die Nutzung von Daten ist noch keine Risikoanalyse

Viele Tool-Anbieter geben an, dass ihre Lösungen KI verwenden. Bietet das nicht ein großes Entwicklungspotential?

Das ist ein wichtiger Punkt. Die Tools können sich verbessern. Sorgfaltspflichten bedeuten für alle kontinuierliches Lernen. Aber Stand heute beobachte ich, dass in den meisten Fällen das Etikett „KI“ einfach nur ein Buzzword fürs Marketing ist. Was die Tools tatsächlich machen, ist oft simpel. Manche werten Zolldaten aus oder machen Medienscreening. Viele berücksichtigen öffentlich zugängliche Berichte, wie sie etwa der CSR Risiko-Check integriert. Das ist ein kostenfreies Angebot von MVO Nederland, einen niederländischen Unternehmensnetzwerk verantwortungsvoller Unternehmen, mit etwa 3.500 Datensätzen aus NGO-Berichten, Regierungsberichten, Zeitungsberichten und wissenschaftlichen Studien, die Expertinnen und Experten lesen und aufbereiten. Solche Daten zu nutzen ist sinnvoll. Aber manche Tools tun so, als wäre das bereits eine Risikoanalyse.

Hinzu kommt: Unternehmen wissen meistens nicht, welche Daten und Herangehensweisen die Tools nutzen, weil diese sich nicht in den Maschinenraum schauen lassen. Anders als bei Standards, Audits und Zertifizierungen ist überhaupt nicht nachvollziehbar, welche Methodik zur Risikobewertung dahintersteckt. Hier könnten und müssten die Softwarelösungen sich auch weiterentwickeln.

Es gibt einige Fachleute, die der Meinung sind, dass die Tools vieles versprechen, was sie nicht halten. Ist es nicht blauäugig oder naiv von den Unternehmen, Marketingaussagen für bare Münze zu nehmen?

Naja, das ist oft eher Verzweiflung gepaart mit Rechtfertigungsdruck. Viele Mitarbeitende in den Unternehmen wissen, dass das Tool nicht alles leisten kann. Aber sie haben sich dafür stark gemacht, es war teuer, sie mussten intern viel Überzeugungsarbeit leisten, Einkauf und IT einbinden – das schafft eine Dynamik, bei der man später nicht zugeben kann, dass das Tool vielleicht doch nicht als Allheilmittel taugt. Es passiert das, was man aus dem Märchen des Kaisers neue Kleider kennt: Alle sehen das Problem, aber keiner traut sich, dieses anzusprechen. Aber ich möchte nicht zu sehr verallgemeinern. Denn natürlich haben Unternehmen in Bezug auf Sorgfaltspflichtenprozesse unterschiedliche Maturity Level.

Es passiert das, was man aus dem Märchen des Kaisers neue Kleider kennt: Alle sehen das Problem, aber keiner traut sich, dieses anzusprechen.

Wie arbeiten Unternehmen bisher mit den Tools?

Die Spannbreite ist riesig. Manche lassen sich ein Tool für die eigenen Bedürfnisse zurechtschneidern, andere gehen mit Scheuklappen durch das LkSG und verlassen sich voll auf die Technik. Am besten wäre der Mittelweg: Sich genau anschauen, was man mit den Tools machen kann und was nicht. Die Vorreiter haben manchmal sogar zwei oder drei Tools parallel laufen, weil eins allein nicht reicht. Und sie begleiten das intensiv – mit Workshops, Stakeholder-Dialogen, individuellen Analysen. Diese Unternehmen setzen Maßnahmen zur Prävention und Abhilfe auf und sagen ganz klar: „Das Tool hilft uns – aber wir machen den Sorgfaltsprozess.“ Nicht umgekehrt. Sie machen da weiter, wo die Tools aufhören: in der realen Welt.

Verbände können unterstützen – fördern aber oft das Bürokratiemonster-Narrativ

Müsste die Bundesregierung nicht mehr tun, um passende Fragebogen-Templates zur Verfügung zu stellen und eine Einheitlichkeit über verschiedene Tools zu gewährleisten?

Die Bundesregierung macht schon ziemlich viel. Es gibt den Helpdesk, es gibt das BAFA, es gibt eine Menge kostenloser Angebote, Webinare, Infos. Über Branchendialoge wurde viel gemacht und das BAFA hat erst vor ein paar Monaten ein FAQ-Papier zum risikobasierten Ansatz veröffentlicht. Was die Vereinheitlichung von Fragebögen angeht, würde ich lieber den Ball den Verbänden zuspielen. Denn die Fragen sollten zum Risikokontext passen – und die Spezialisierung auf bestimmte Rohstoffe oder Produktionsschritte berücksichtigen. Es wäre fantastisch, wenn es Tools gäbe, wo man standardisierte Spezialfragebögen hochladen kann. Und diese bereitzustellen, da wären Verbände doch die richtigen Ansprechpartner.

Leider hat sich aber auch in Verbänden das Bürokratiemonster-Narrativ total verselbständigt. Ich habe es selbst erlebt: Eine Verbandsvertreterin erzählte mir bei einem Abendempfang, wie schlimm das LkSG sei, weil es erfordere, dass man Fragebögen an alle Lieferanten schickt – eine völlig verdrehte Darstellung der Tatsachen. Und auf Nachfrage stellt sich raus: Sie spricht nicht aus eigener Erfahrung, sondern weil Unternehmen ihr das gesagt haben. Gegen diese Dynamik kommt man nicht so leicht an. Und auch Medien spielen dabei eine unrühmliche Rolle, viele verstärken diese Sicht zusätzlich.

Inwiefern ist es die Aufgabe des Helpdesk, einem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanzierten Angebot, dem Markt für Tools auf die Finger zu schauen?

Wir sind keine Marktaufsicht, sondern ein Beratungsangebot. Als öffentlich finanziertes Angebot dürfen wir nicht in den Markt eingreifen. Der Helpdesk für Wirtschaft und Menschenrechte unterstützt bei der praktischen Umsetzung von Sorgfaltsprozessen. Aber wenn wir sehen, dass ein ganzer Markt mit Maximalversprechen um sich wirft – oft auf dem Rücken schlecht informierter Unternehmen –, dann müssen wir reagieren. Nicht nur das BMZ, sondern auch das BMAS und BMWK weisen darauf hin: Dieser Wildwuchs ist so nicht gewollt. Wir haben da enorme Missstände gesehen und deshalb entschieden, eine Praxishilfe zu dem Thema herauszugeben. Darin geben wir Empfehlungen, wie man die Tools sinnvoll in den Sorgfaltsprozess integriert – aber nicht, wie man das passende Tool auswählt.

Praxishilfe zur sinnvollen Einbindung von Tools in den Sorgfaltsprozess

Die Praxishilfe basiert auf Workshops mit Unternehmen. Wer war da genau beteiligt?

Wir haben mit mehr als 50 Unternehmen verschiedener Branchen und Größen gearbeitet, die wir entweder selbst aus der Beratung kannten oder die uns über Netzwerke empfohlen wurden – mit dem Hinweis: Die machen das ernsthaft. Dazu kamen NGOs, Unternehmensverbände und Vertreterinnen und Vertreter aus Ministerien. Das war wichtig, weil wir sehr unterschiedliche Perspektiven zusammenbringen wollten. Rausgekommen ist ein Problemaufriss, mit konstruktiven Vorschlägen, wie man mit Tools umgehen kann.

Sie schlagen in der Praxishilfe vier Schritte vor, wie man Tools sinnvoll in den Sorgfaltsprozess einbinden kann – vor allem bei der Risikoanalyse. Wie sollten Unternehmen Ihrer Ansicht nach konkret vorgehen?

Im ersten Schritt geht es darum, einen eigenen Prozess zu definieren, statt sich von den Prozessen des Tools leiten zu lassen. Man sollte sich klar machen: Was verstehen wir unter Risikoanalyse? Welche rechtlichen Anforderungen sehen wir? Und wie wollen wir sie umsetzen? Dann erst schauen: Was kann das Tool davon abbilden – und was nicht? Sonst läuft man Gefahr, blind dem vorgegebenen Ablauf der Software zu folgen, ohne zu merken, dass der fachlich oft gar nicht passt.

Der zweite Schritt besteht darin, Funktionen und Daten kritisch zu prüfen. Nicht alles, was ein Tool anbietet, ist automatisch sinnvoll. Vor allem diese Gießkannen-Fragebögen – an alle, jedes Jahr dieselben Fragen – sind oft reine Scheinsicherheit. Stattdessen gilt es zu hinterfragen: Welche Daten liefert das Tool wirklich? Sind sie aktuell? Verlässlich? Und: Passen sie überhaupt zur Tiefe der Lieferkette, mit der ich arbeite?

Im dritten Schritt identifiziert man Informationslücken, fragt sich: Was fehlt noch? Wo habe ich keine Daten? Und was kann mir das Tool eben nicht liefern – etwa Informationen aus der Perspektive der Betroffenen? Dann weiß ich: Da muss ich anders ran.

Und das ist dann der vierte Schritt: echte, ergänzende Maßnahmen. Wenn Unternehmen Risiken sehen, sollten sie nicht einfach nur beim Zulieferer nachfragen – sondern überlegen, mit welchen Maßnahmen sie zur Verbesserung beitragen können. Vielleicht über Schulbildung, über Lohnstruktur, über angepasste Beschaffungspraxis. Und vor allem: Auch mal auf das eigene Einkaufsverhalten schauen. Denn das ist oft Teil des Problems – und der Schlüssel zur Lösung.

Hier finden Sie die Praxishilfe zum kostenfreien Download.


Schlagworte zum Thema:  CSDDD , Lieferkette , Software
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