Kinderfreibeträge zu gering und deshalb verfassungswidrig?

Das Bundesverfassungsgericht muss sich mit der Frage befassen, ob der Gesetzgeber die Kinderfreibeträge (nicht nur) im Jahr 2014 in verfassungswidriger Weise zu niedrig bemessen hat. Die Finanzämter gewähren jedoch kein Ruhen des Verfahrens. Was ist Betroffen zu raten?

Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens ein Betrag in Höhe des Existenzminimums steuerfrei bleiben. Auf den Teil des Einkommens, den man bei Bedürftigkeit als Sozialleistung erhalten würde, darf keine Einkommensteuer erhoben werden.

Vorlage-Beschluss des FG Niedersachsen

Das FG Niedersachsen ist zur Überzeugung gelangt, dass der Gesetzgeber die Höhe der Kinderfreibeträge in verfassungswidriger Weise zu niedrig festgelegt hat (Beschluss v. 2.12.2016, 7 K 83/16, Haufe Index 10582350). Das FG hält die Regelung in § 32 Abs. 6 Satz 1 bis 3 EStG, nach der bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Jahr 2014 für jedes zu berücksichtigende Kind der Steuerpflichtigen ein Freibetrag von 2.184 EUR für das sächliche Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag) sowie ein Freibetrag von 1.320 EUR für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes vom Einkommen abgezogen werden - diese Beträge verdoppeln sich u. a. bei zusammen veranlagten Ehegatten oder bei einer verwitweten Steuerpflichtigen - für verfassungswidrig.

Existenzminimum wird nicht verschont

Das FG ist davon überzeugt, dass die in § 32 Abs. 6 Satz 1 bis 3 EStG bestimmte Höhe des Freibetrags für das sächliche Existenzminimum (Kinderfreibetrag) gegen das aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG abzuleitende Gebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums der Steuerpflichtigen und ihrer unterhaltsberechtigten Familie und gegen das Gleichbehandlungsgebot verstößt. Dem Freibetrag liegt ein nach Lebensaltern gewichteter Durchschnittsbetrag der sozialrechtlichen Regelsätze für Kinder von der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zugrunde. Dieser deckt in einer Vielzahl von Fällen den entsprechenden Bedarf dieser Kinder nicht ab.

Höherer Bedarf älterer Kinder wird nicht berücksichtigt

Stellt man die Nichtberücksichtigung des höheren Bedarfs aller Kinder ab Vollendung des 6. Lebensjahrs im einheitlichen Kinderfreibetrag dessen Zweck gemäß § 31 EStG - steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes - gegenüber, ergibt sich kein zulässiger Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG. Eine Typisierung zur Vereinfachung der Gesetzesanwendung im Massenverfahren stellt keinen Rechtfertigungsgrund dar, weil ein unter dem sozialrechtlichen Existenzminimum liegendes Existenzminimum nicht besteuert werden darf.

Auswirkung der fehlenden Altersstaffelung für das Jahr 2014

Die fehlende Altersstaffelung führt dazu, dass der Kinderfreibetrag je nach Alter der Kinder im Jahr 2014 um folgende Beträge zu niedrig ist:

Alter des Kindes

Kinderfreibetrag zu niedrig

6 bis 14 Jahre

24 EUR

14 bis 18 Jahre

444 EUR

ab 18 Jahren

1.584 EUR

Kinderfreibetrag: ESt-Bescheide nur wegen Freibetrag 2014 vorläufig

Bisher ergehen Steuerbescheide nur wegen des - um 72 EUR zu niedrigen - Kinderfreibetrags nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig (BMF, Schreiben vom 11.04.2016, Az. IV A 3 - S 0338/07/10010, Haufe Index 9231325). Das BMF erwähnt in seinem Schreiben aber nicht, dass sich die Vorläufigkeit auch auf die Streitfrage bezieht, ob der Kinderfreibetrag generell zu niedrig ist, weil er sich unabhängig vom Alter des Kindes am Regelbedarf für Kinder bis unter 6 Jahren orientiert.

Steuerliche Auswirkung höherer Kinderfreibeträge

Die von dem FG Niedersachsen mit guter Begründung geforderten deutlich höheren Freibeträge für über 18 Jahre alte Kinder würde bei Steuerpflichtigen mit höheren Einkommen im Rahmen der nach § 31 EStG vorzunehmenden Günstigerprüfung bei gleich bleibendem Kindergeld zu einer nicht unwesentlichen Verminderung der Einkommensteuer führen. 

Die Entscheidung hat Bedeutung für alle Eltern, die für Kinder Anspruch auf Kindergeld oder -freibetrag haben. Eine Erhöhung der Kinderfreibeträge wirkt sich steuerlich nicht nur bei solchen Steuerpflichtigen aus, für die der Kinderfreibetrag günstiger ist als das Kindergeld, sondern würde alle Eltern betreffen, weil die Kinderfreibeträge immer bei der Festsetzung der Kirchensteuer und des Solidaritätszuschlages berücksichtigt werden. Höhere Kinderfreibeträge führen daher in jedem Fall zu einer Verminderung der Kirchensteuer und des Solidaritätszuschlags.

Praxis-Tipp: Ruhen des Verfahrens

Lehnt das FA das Ruhen des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 AO unter Hinweis auf den im Steuerbescheid bezüglich der Höhe der Höhe der kindbezogenen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 Sätze 1 und 2 EStG enthaltenen Vorläufigkeitsvermerk ab, sollte dem entgegengehalten werden, dass der Vorläufigkeitsvermerk sich nicht auf die nach Auffassung des FG Niedersachsen fehlende Altersstaffelung der Kinderfreibeträge erstreckt. Sollte das FA trotzdem die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für eine "Zwangsruhe"  nach § 363 Abs. 2 AO nicht vorliegen kann   versucht werden ein Ruhen des Verfahrens aus "Zweckmäßigkeitsgründen" nach § 363 Abs. 1 AO zu  erreichen. Sollte das FA dem nicht zustimmen und den Einspruch wegen fehlendem Rechtsschutzinteresse als unzulässig verwerfen, kann die Rechtswidrigkeit der Ablehnung nach § 363 Abs. 3 AO nur durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden. Da die FÄ in der Regel zusätzlichen FG Verfahren vermeiden wollen, sind die Aussichten auf die Zustimmung zum Ruhen aus "Zweckmäßigkeitsgründen" nicht schlecht.