Vorurteilsfreies Recruiting in Purpose Unternehmen

„Diversity Management“ ist mittlerweile allen ein Begriff, nicht nur Personaler:innen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Unternehmen, die es praktizieren, sind nicht nur agiler, kreativer und innovativer, sondern auch attraktiver für Arbeitssuchende. Wie Rekrutierungsprozesse tatsächlich vorurteilsfreier gestaltet werden können, zeigt Lukas Marzi anhand von Beispielen.

Gesetzliche Anforderungen versus Realität 

„Kellnerin gesucht“ – so las es sich bis vor wenigen Jahren noch an der Scheibe vieler Kneipen. Seit dem 1. Januar 2019 sollten wir den Aufruf so nicht mehr sehen – seit dann müssen alle Jobanzeigen genderneutral formuliert werden. Das regelt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das mit insgesamt 33 Paragraphen Menschen in Deutschland vor Benachteiligung schützen soll. Dass fortan ein:e Kellner:in (w/m/d) gesucht wird, ist gut – das sogenannte dritte Geschlecht („d“) taucht übrigens lediglich in 20 Staaten weltweit auf, in denen es rechtlich anerkannt ist und wo sich Menschen für Eintragung des Geschlechtsmerkmals entscheiden dürfen.  

Nun aber zur Realität: Eine neu erschienene Studie zeigt, dass sich vielleicht die Benennung der Stellenanzeigen geändert hat, nicht aber das zugrundeliegende Problem: Diskriminierung von Personengruppen aufgrund bestimmter Merkmale. Während in der Gastronomie noch bevorzugt Frauen eingestellt werden, ist das in anderen Bereichen anders. Die Studie, die auf einer umfangreichen Befragung deutscher Unternehmen basiert, zeigt, dass trotz gleicher Qualifikation und Eignung Frauen weniger Chancen erhalten, zum nächsten Schritt des Einstellungsprozesses eingeladen zu werden. So würde eine Frau vielleicht nicht Kellnerin werden, vor allem aber wird sie weniger wahrscheinlich Führungskraft.  

Laut Statistischem Bundesamt waren im Jahr 2022 nur 28,9 Prozent aller Führungskräfte weiblich. Die Studie zeigt warum: Frauen werden im Durchschnitt schlechter bewertet als Männer, und zwar unter Berücksichtigung aller anderen Lebenslaufattribute wie Schulnoten, Alter, Informationen über Aktivitäten nach der Schule, Berufe der Eltern usw.  

Diversität – in sieben Dimensionen 

Diskriminierung ist subtil in Bewertungs- und Einstellungsprozesse eingebettet, was es schwierig macht, sie zu identifizieren und zu bekämpfen. Doch ehe wir Möglichkeiten betrachten, noch eine wichtige Klarstellung: Diversität geht weit über Geschlechtsmerkmale hinaus. 

Die Charta der Vielfalt, eine Initiative von Unternehmen der freien Wirtschaft mit Unterstützung der Bundesregierung, benennt sieben Kerndimensionen der Diversität: Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, geistige und körperliche Fähigkeiten, nationale Herkunft/Ethnie und Hautfarbe. Ziel der Initiative ist eine vorurteilsfreie Arbeitsumgebung für alle – angeschlossen haben sich diesem Ziel schon rund 5.000 Organisationen.  

Die Charta zeigt in allen Vielfaltsdimensionen Möglichkeiten auf, Potenziale zu entfalten und Mitarbeitende benachteiligter Gruppen zu fördern. Die Empfehlungen sind klar: Es soll Barrierefreiheit ermöglicht werden, Teams sollen so zusammengestellt werden, dass sie unterschiedliche Kulturen vereinen, Mitarbeitende sollen sensibilisiert werden und vieles mehr. Klingt logisch! Problematisch ist aber nicht, dass es an Lösungen mangelt oder Unternehmen noch nicht die Bedeutung von Diversity-Management verstanden haben, sondern problematisch sind ebenjene subtilen Bias, Menschen innewohnende Vorurteile, die unbewusst Einfluss nehmen. Wie können also Recruiting-Prozesse gestaltet werden, in denen diese Vorurteile vielleicht immer noch existieren, aber zumindest keinen Einfluss mehr nehmen können? 

Vorurteilsfreies Recruiting: Wie soll das gehen? 

Im Folgenden wollen wir zwei Lösungen betrachten, die sich herunterbrechen lassen auf einen Grundgedanken: Eigentlich gar nicht wissen, wen man einstellt. Was auf den ersten Blick vielleicht etwas realitätsfremd erscheint, ist schon gängige Praxis – bei B Lab Germany und On Purpose. 

In Deutschland sind mittlerweile mehr als 100 Organisationen „B Corp“-zertifiziert. Dazu gehören Ecosia, TheDive, Tomorrow und viele mehr. Hinter der Zertifizierung steht in Deutschland die Organisation B Lab Germany. Wie auch der Mutterkonzern hat sich B Lab Germany der Gestaltung einer inklusiven, fairen und regenerativen Wirtschaft verschrieben. Nicht verwunderlich ist daher, dass die Organisation diesen Anspruch auch nach innen lebt – bis zum eigenen Recruiting. Hierfür nutzen sie das Tool „Be Applied“, zu dessen Kunden unter anderem auch UNICEF zählt. 

Das Tool unterstützt Organisationen ganzheitlich im Recruitingprozess. Es anonymisiert die Lebensläufe der Bewerber:innen und befreit sie neben Jobtiteln von Bildern, den Namen früherer Arbeitgeber und auch dem Namen der bewerbenden Person selbst – der nicht nur Rückschluss auf das Geschlecht, sondern gegebenenfalls auch auf nationale Herkunft/Ethnie geben könnte. Be Applied nimmt dem Lebenslauf jede Grundlage für eine vorurteilsbehaftete Bewertung und unterstützt auch noch an anderen Stellen. Wer sich bei B Lab Germany bewirbt, kommt direkt mit dem Tool in Berührung: Lebenslauf und Co werden über Be Applied hochgeladen und im gleichen Moment beantworten Bewerbende Fragen.  

Bis zur Vertragsunterzeichnung nicht wissen, mit wem man arbeiten wird? Ganz so ist es nicht, erklärt Andrew Green, Geschäftsführer von B Lab Deutschland. Die randomisierten Antworten auf die Bewerbungsfragen sieht das Team und bewertet diese auch. Jedoch erst, wenn das finale Ranking abgeschlossen und klar ist, wer in der Bewerbungsrunde am ehesten die Kriterien erfüllt, lässt sich das Profil der Person einsehen. Green betont:   

„Durch das Tool werden wir im Team diverser. Damit verbunden sind alle bekannten Vorteile. Am meisten schätzen wir aber, dass wir den Anspruch, den wir nach außen kommunizieren, selbst leben und zum Best Practice werden. Sicherlich ist es ungewohnt, in einen solchen Prozess zu gehen. Aber für eine Transformation der Wirtschaft müssen wir gewohntes eben auch gehen lassen.“ Mit dem Tool hat B Lab Germany gerade zwei neue Personen eingestellt und der Geschäftsführer ist zufrieden. Auch für die nächste Runde werden sie das Tool nutzen.  

Vorurteilsfrei dank Matching? 

„Eigentlich nicht wissen, wen man einstellt“ beschreibt auch die Arbeit mit On Purpose – zumindest in den ersten Zügen, bis Organisationen sich auf die Zusammenarbeit mit dem internationalen Sozialunternehmen einigen. In London, Paris und Berlin bringt On Purpose Jobsuchende mit Organisationen zusammen und verbindet im einjährigen „Associate-Programm“ die Themen Weiterbildung und Personalvermittlung. 

„Organisationen und auch unsere Associates kennen einander noch nicht, wenn sie bei uns unterschreiben“, sagt Miriam Pospiech, Recruiting-Managerin und Diversity-Beauftrage bei On Purpose Berlin. Bei der Bewerbung für das Programm werden mindestens zwei Jahre Berufserfahrung, fließende Deutsch- und Englischkenntnisse und ein Hochschulabschluss oder eine vergleichbare Qualifikation abgefragt. „Ob eine Person nach der Bewerbung in das Programm kommt, entscheiden bis zu sieben Personen, von denen viele ehemalige Programmteilnehmende sind. So schaffen wir in unserem dreistufigen Auswahlprozess ein möglichst vorurteilsfreies Recruiting, sowohl für unser Programm als auch für unsere Partnerorganisationen“, betont Pospiech. 

Auch wenn die Organisationen selbst nicht die Teilnehmenden auswählen und nur bedingt auf das Matching Einfluss nehmen können, sprechen die Zahlen für sich: Etwa 75 Prozent der Programmteilnehmenden erhalten von den Organisationen ein Angebot, etwa die Hälfte aller Associates bleibt in einer ihrer beiden Stationen. Was Miriam Pospiech noch hervorhebt: „Besonders spannend ist, dass Organisationen häufig Associates ein Angebot machen, die sie auf Basis des Lebenslaufs gar nicht eingestellt hätten. Im klassischen Prozess hätten sie ihre zukünftigen Kolleg:innen vermutlich nicht einmal eingeladen“.  

Vorurteilsfreies Recruiting – ein Weg 

Wenngleich Diversität in allen Facetten überall als Zielgröße definiert wird, geht es vor allem um eins: Loslegen! Sich bewusst zu machen, wie Glaubenssätze uns in unserem täglichen Denken beeinflussen und eben auch in Bewerbungsgespräche Einzug erhalten, ist bereits ein elementarer Schritt. Und möchte man die ersten Schritte gehen, sollte man noch etwas bedenken: Man ist damit nicht allein! Es gibt zahlreiche Organisationen, die als Expert:innen dazu gezogen werden können, oder in deren Handeln ein gutes Beispiel gefunden werden kann. Essenziell sind der Austausch über den eigenen Weg und die Suche nach Verbündeten.