Interview Nachhaltige Führung Anabel Ternes

Nachhaltige Führung ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen, sagt Prof. Dr. Anabel Ternès. Ihr Tipp: Führungskräfte sollten individuelle Bedürfnisse von Mitarbeitenden wahrnehmen, Chancen unterbreiten und Möglichkeiten geben. Und: Bei alldem darf Nachhaltigkeit auch Spaß machen.

Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Modewort, sondern ein Leitprinzip, das die Grundlage für eine zukunftsfähige Führungskultur in Unternehmen bildet. Darüber ist sich Anabel Ternès, geschäftsführende Direktorin des Berliner SRH-Instituts für Nachhaltiges Management, mehrfache Gründerin und Keynotespeakerin sicher. Im Interview spricht sie über ihren Weg zur Nachhaltigkeit, wieso die Menschen stets im Mittelpunkt stehen sollten und ihr neues Buch „Los, jetzt – nachhaltig führen = Zukunft gewinnen“.

Das Buch „Los, jetzt: Nachhaltig führen = Zukunft gewinnen“ erscheint am 30. Oktober 2023 bei Haufe. Hier finden Sie weitere Informationen zum Buch.


Anabel, in deiner persönlichen Geschichte spielen Migration, Selbstbestimmung und Bildung eine zentrale Rolle. Wie prägt dieser Hintergrund deine Begeisterung für soziale Nachhaltigkeit?

Ternès: Meine Großmutter ist mit ihren vier Kindern nach Deutschland geflohen. Diese Erfahrung ist nicht meine eigene, aber sie hat mir oft davon erzählt und es hat uns geprägt. Ihre Geschichte hat mir das Gefühl vermittelt, dass es immer Lösungen gibt. Es gibt kein ‚es geht nicht‘. Andererseits habe ich aus meiner Familie ein sehr traditionelles Frauenbild mitbekommen. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass ‚Family First‘ nicht heißen darf, dass man selbst an letzter Stelle kommt und sich den Vorstellungen der Familie zu fügen hat. Stattdessen sollte es bedeuten, dass man sich selbst liebt und dann die Kraft hat, sich um andere zu kümmern. Ich habe früh angefangen, mich für Kinderrechte und für Umweltschutz einzusetzen. Für gleiche Rechte für alle Kinder, für das Gehörtwerden durch Erwachsene, gegen Armut, gegen Plastikmüll. Nachhaltigkeit ist für mich nicht nur mit Werten verbunden, sondern stark mit Ressourcenorientierung, Innovation und Zukunft.

Der systemische Blick auf Nachhaltigkeit

Wie lässt sich Nachhaltigkeit im Unternehmenskontext in nur zwei Sätzen zusammenfassen?

Nachhaltigkeit ist für mich der Kitt und Innovationsfaktor eines jeden Unternehmens. Ich sehe es als Gesamtsystem, in dem es darum geht, ausgehend von der sozialen Nachhaltigkeit die ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit ressourcenorientiert, ganzheitlich und gesamtsystemisch zu gestalten.

Und was können wir uns dann unter nachhaltiger Führung vorstellen?

Nachhaltige Führung fängt bei mir selbst an und nimmt jeden mit, da wo er steht. Niederschwellig, ressourcenorientiert, mit der Chance zur Weiterentwicklung und Entfaltung der Potenziale.

Wenn wir über soziale Nachhaltigkeit in Unternehmen sprechen, sprechen wir über die Menschen. Du bist seit diesem Jahr das „Nachhaltigkeitsgesicht“ der Messe Zukunft Personal. Wieso ist Nachhaltigkeit ein HR-Thema?

Es geht um ein gesamtsystemisches Verständnis. Das Ganze funktioniert nur, wenn das Wichtigste an erster Stelle steht. Und das sind wir, die Mitarbeitenden in Unternehmen, die Gesellschaft, alle, die hier auf diesem Planeten dazu gehören. Es geht auch darum, die Mitarbeitenden fit zu machen nachhaltig zu handeln, nicht nur für das Unternehmen, sondern auch für sie selbst.

Das „S“ für Social steht deiner Meinung nach in „ESG“ (Environmental, Social, Governance) also nicht nur orthografisch in der Mitte, sondern auch inhaltlich?

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Unternehmen machen deren DNA aus. Lange Zeit haben wir betont, Wissen sei das Kapital eines Unternehmens. Dabei geht es nicht um das Wissen, das man in einem Buch nachschlagen kann, sondern um das praktisch angewendete Wissen. Nehmen wir zum Beispiel den Bereich Diversity. Da spielen viele Faktoren eine Rolle, wie Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Behinderungen, mentale Gesundheit, physische Einschränkungen und viele andere Aspekte. Doch meiner Meinung nach haben wir zwei Punkte bisher nicht ausreichend verstanden. Erstens: Wir haben nicht verstanden, dass Diversity keine neuen Schubladen aufmachen sollte. Echte Diversity bedeutet, dass die Einzigartigkeit von jedem Menschen akzeptiert werden muss, vielmehr noch: gefördert werden sollte. Zweitens: Wir haben noch nicht erkannt, wie sehr unsere Gesellschaft von Menschen profitieren kann, die eine Menge an Erfahrung mitbringen. Von denjenigen, die im reiferen Alter sind und keineswegs abgeschrieben werden sollten. Wir sollten davon ausgehen, dass diese Menschen eine erhebliche Innovationskraft und wertvolle Erfahrungen mitbringen, die uns gute Impulse geben können. So viele von ihnen wollen im Rentenalter nicht aufhören zu arbeiten – mit einer entsprechenden Lebenserwartung auf der einen Seite und Fachkräftemangel auf der anderen Seite darf hier noch einiges passieren.

Du warst schon in diversen Führungspositionen bei großen Konsumgüterunternehmen. War nachhaltige Führung damals auch schon so ein zentrales Thema?

Über Nachhaltigkeit wurde da noch nicht unter diesem Begriff gesprochen. Aber für mich war Verantwortung immer ein Thema, als Führungskraft für mich und für andere. Ich habe sehr schnell umfangreiche Führungsverantwortung für viele Menschen übernommen. Dabei ging es mir zum einen darum, die Pflichten in meinem Job gegenüber dem Unternehmen zu erfüllen, Umsatz zu generieren und zu maximieren. Aber genauso wichtig war es für mich, ein Team zu formen, das perfekt harmoniert, sich gegenseitig unterstützt, und in dem ich die Rolle einer Impulsgeberin, eines Coaches, einer Gastgeberin und einer Begleiterin spiele. Es war mir wichtig, Impulse zu geben, um Ergebnisse zu sichern, aber auch zu schauen, was die Menschen brauchen. Wo braucht jemand Support, weil er einen zu pflegenden Angehörigen hat? Wo kommt jemand mit dem Workload nicht klar oder für wen wäre eine Weiterbildung gut? Und dann geht es darum, als Führungskraft Chancen aufzuzeigen und Möglichkeiten zu geben.

Anabel Ternès Christoph Herzog

Praxisbeispiele für nachhaltiges Leadership

In deinem neuen Buch „Los, jetzt – nachhaltig führen = Zukunft gewinnen“ gibt es zahlreiche Praxisbeispiele für nachhaltiges Leadership. Wenn du jetzt ein einziges Beispiel herausheben müsstest, welches wäre das?

Es gibt viele tolle Beispiele. Eines davon ist, wie Vitra ihre Politik in der Coronazeit gestaltet hat. Sie haben mit ihrer Zentrale einen Ort, an dem Mitarbeitende die Produkte wirklich fühlen und erleben. Als während Corona die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von zuhause gearbeitet haben, war das nicht mehr möglich. Anstatt aber danach zu sagen ‚Ihr müsst alle wieder in die Zentrale‘, wurde anders vorgegangen. Vitra hat die Zentrale noch angenehmer, noch mehr mit Wohlfühl-Effekt gestaltet, damit die Mitarbeitenden nichts lieber wollen, als zurückzukommen. Der Arbeitsort wurde noch attraktiver gemacht. Und ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Bei Nachhaltigkeit wird so häufig über Regeln und Verzicht gesprochen. Aber Nachhaltigkeit heißt an erster Stelle, etwas für eine lebenswerte Welt zu tun – was gibt es Besseres? Und es ist klar, wenn wir eine lebenswerte Welt haben wollen, gibt es keine Alternative zur Nachhaltigkeit. Und trotzdem: Nachhaltigkeit darf und sollte Spaß machen.

Lass uns über den Schreibprozess sprechen. An welchem Kapitel hattest du als Autorin am meisten Freude?

Das ist eine schwierige Frage. Jedes Kapitel hat mir Freude gemacht. Ich glaube, was mir besonders Freude bereitet hat, war die Konzeption des Buches. Dabei habe ich mich gefragt, wie ich gerne ein Buch lesen würde. Mir ist es wichtig, dass ich Informationen schnell finden kann. Mir ist aber auch wichtig, dass die Informationen nicht abstrakt und mit Fremdwörtern präsentiert werden, sondern durch Best-Case-Beispiele. Praktische Beispiele wie etwa von Vaude, Wala, KU64 und all denjenigen, die an diesem Projekt mitgewirkt haben. Das hat mir vor allem Freude gemacht.

Nach meiner Erfahrung fängt Nachhaltigkeit nicht bei einem CO2-Fußabdruck an, sondern sie beginnt beim Menschen. Nur wenn du verstehst, dass das Soziale kein nettes Beiwerk ist, um das man sich nur kümmert, um ein besseres Recruiting zu ermöglichen, nur dann kann Nachhaltigkeit ihre volle Kraft entfalten. Dann führt sie dazu, dass Mitarbeitende gerne im Unternehmen bleiben, dass das Unternehmen Erfolg hat, nicht nur heute und morgen. Dies erreiche ich, indem ich nicht nur oberflächlich schaue, sondern auch verstehe, dass ich meinen Horizont erweitern darf.

Ist das die Essenz dessen, was du mit deinem Buch bewirken möchtest?

Ja, ich würde mich freuen, wenn die Menschen die Welt aus einer anderen Perspektive sehen und verstehen, dass Innovation, Veränderung und Bewegung bei einem selbst beginnen. Ein Miteinander macht mehr Spaß als allein. Wenn diese Aspekte vermittelt werden können, wäre ich sehr zufrieden. Ich möchte, dass Nachhaltigkeit nicht als Zwang empfunden wird, sondern als etwas, das jeder von uns für sich entdecken und leben kann. Letztlich geht es darum, zu zeigen, dass Nachhaltigkeit ein Gewinn für alle ist, und dass man etwas bewegen kann, wenn man an sich selbst glaubt und gemeinsam handelt.

Vielen Dank für das Gespräch!


Schlagworte zum Thema:  Green HR, Nachhaltigkeit, Leadership