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BSG Urteil vom 23.06.1977 - 8 RU 88/76

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Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I.

Unter den Beteiligten ist streitig; ob der Kläger einen Anspruch auf Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente für die Zeit nach Wegfall, des während einer Umschulungsmaßnahme gewährten Übergangsgeldes bis zur Aufnahme einer neuen Beschäftigung hat.

Der Kläger erlitt am 14. Dezember 1972 bei seiner beruflichen Beschäftigung als Einschaler eine Verletzung der linken Hand. Die Beklagte gewährte ihm zunächst eine Gesamtvergütung gemäß § 603 Reichsversicherungsordnung (RVO) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (M.d.E.) um 25 v.H. für die Zeit vom 26. März 1973 bis 30. November 1974 und anschließend eine Dauerrente nach einer M.d.E. um 20 v.H.

Da der Kläger wegen der Unfallfolgen seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben konnte, bewilligte ihm die Beklagte eine Umschulung zum Bürokaufmann in der Zeit vom 1. April 1974 bis 31. Mai 1975. Für die Zeit vom 1. April 1974 bis 31. November 1974 erhöhte sie die gewährte Gesamtvergütung auf die Vollrente und zahlte dem Kläger für die weitere Dauer der Umschulung und darüber hinaus bis zum 12. Juli 1975 Übergangsgeld (§§ 560, 568, 568a RVO i.d.F. des RehaAnglG vom 7. August 1974 BGBl. I 1881). Trotz der erfolgreich abgeschlossenen Umschulung konnte das Arbeitsamt dem Kläger zunächst keinen Arbeitsplatz vermitteln. Erst seit dem 1. Juni 1976 ist der Kläger wieder erwerbstätig.

Auf den Antrag des Klägers vom 18. August 1975 erhöhte die Beklagte zwar die Teilrente für die Zeit vom 4. April bis 6. Mai 1973 auf die Vollrente, lehnte eine solche Erhöhung jedoch für die Zeit ab 13. Juli 1975 (Wegfall des Übergangsgeldes) ab, weil nicht mehr die Unfallfolgen, sondern die allgemeine schlechte Arbeitsmarktsituation und der Einstellungsstopp infolge von Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst ursächlich dafür seien, daß der Kläger trotz seiner durchgeführten Umschulung zum Bürokaufmann ohne Arbeitseinkommen sei (Bescheid vom 20. April 1976).

Die auf Erhöhung der Teilrente für die Zeit vom 13. Juli 1975 bis 31. Mai 1976 gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 6. Oktober 1976). Es hat zur Begründung u.a. ausgeführt, die Folgen des Unfalls vom 14. Dezember 1972 seien nicht mehr eine rechtlich wesentliche Teilursache der Arbeitslosigkeit des Klägers in der streitigen Zeit gewesen. Nach der erfolgreich durchgeführten Umschulung sei der Kläger, trotz der weiterhin bestehenden Unfallfolgen wieder wettbewerbsfähig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gewesen. Die Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes für den ohne jede Einschränkung arbeitswilligen Kläger seien an der allgemein schlechten Arbeitsmarktsituation und im Hinblick auf Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst an dem sogenannten Einstellungsstopp infolge von Sparmaßnahmen gescheitert. Der Kläger könne zwar wegen der Unfallfolgen gegenüber anderen völlig gesunden Bewerbern auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt gewesen sein, weil er etwa nicht richtig Schreibmaschine schreiben könne. Dennoch seien die Unfallfolgen mit Ihren Auswirkungen wesentlich gegenüber der konjunkturbedingten Situation auf dem Arbeitsmarkt als eindeutig im Vordergrund stehende Ursache für die Arbeitslosigkeit des Klägers zurückgetreten. Auch wenn man davon ausgehe, daß der Kläger ohne den Arbeitsunfall seinen früheren Arbeitsplatz als Einschaler niemals verloren hätte, sei wesentliche Ursache für die Arbeitslosigkeit die konjunkturbedingte Lage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gewesen. Die als vorübergehende Maßnahme gedachte Vorschrift (Erhöhung der Teilrente) würde zeitlich zu weit ausgedehnt, wenn man trotz erfolgreich durchgeführter Umschulung den Verlust des früheren Arbeitsplatzes durch den Unfall weiterhin als wesentliche Ursache für eine anschließende Arbeitslosigkeit betrachten wollte.

Zur Begründung seiner von dem SG zugelassenen und mit Zustimmung der Beklagten eingelegten (Sprung) Revision trägt der Kläger u.a. vor, letztlich sei in der durch den Unfall erforderlich gewordenen Umschulung mit der sich hieran anschließenden nicht möglichen Vermittlung auf einen entsprechenden Arbeitsplatz die rechtlich wesentliche Teilursache zu sehen, so daß der Arbeitsunfall für die Einkommenslosigkeit bestimmend gewesen sei. § 587 Abs. 1 RVO habe nach seiner sozialpolitischen Zielsetzung die Aufgabe, einem Unfallverletzten, der in der Folgezeit deshalb ohne Arbeitseinkommen bleibe, für diesen Zeitraum Vollrente zu gewähren. "Ohne Arbeitseinkommen" bedeute in diesem Zusammenhang "ohne Einkünfte aus gegenwärtiger Arbeit". Daraus ergebe sich für die Zeit, in der der Verletzte ohne gegenwärtiges Einkommen, d.h. arbeitslos sei, ein Rechtsanspruch auf Vollrente.

Der Kläger beantragt,das Urteil des SG Detmold vom 6. Oktober 1976 aufzuheben und in Abänderung des Bescheides vom 20. April 1976 die Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger gewährte Teilrente für die Zeit vom 13. Juli 1975 bis 31. Mai 1976 in eine Vollrente umzuwandeln.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, die konjunkturelle schlechte Beschäftigungslage schiebe sich als Ursache für die Arbeitseinkommenslosigkeit des Klägers in die Kausalkette hinein, die mit seinem Unfall begonnen und zunächst zur Umschulung und zu deren Erfolg geführt habe; sie unterbreche sie aber als rechtliche entscheidende wesentliche Mitursache für den weiteren Ablauf der Dinge. In tatsächlicher Hinsicht bestehe zwar die Ursachenkette vom Arbeitsunfall bis zur Arbeitslosigkeit fort. Diese sei aber nicht die Grundlage für einen Kausalzusammenhang im Rechtssinne. Es sei zwar nicht zu bestreiten, daß der Kläger nicht umgeschult worden wäre, wenn er nicht den anerkannten Arbeitsunfall erlitten hätte. Damit sei der Arbeitsunfall aber nicht wesentlich mitwirkende Ursache; vielmehr sei angesichts der im Vordergrund stehenden schlechten Arbeitsmarktsituation nur noch diese die wesentliche mitwirkende Ursache im Rechtssinne. Eine andere Beurteilung würde auch das dem § 587 RVO innewohnende zeitliche Moment der nur vorübergehenden Unterstützung außer acht lassen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete (Sprung) Revision ist statthaft. Sie führt auch zum Erfolg.

Der erkennende Senat vermag der Rechtsauffassung des SG nicht zu folgen, der Kläger habe keinen Anspruch auf Erhöhung seiner Teilrente auf die Vollrente (§ 587 Abs. 1 RVO), weil für die Zeit nach der erfolgreichen Umschulung vom Einschaler zum Bürokaufmann und der Einstellung des Übergangsgeldes ab 13. Juli 1975 bis zur Aufnahme seiner neuen Erwerbstätigkeit am 1. Juni 1976 nicht mehr die unfallbedingte Handverletzung, sondern die allgemein schlechte Arbeitsmarktsituation die rechtlich wesentliche Ursache seiner Arbeitseinkommenslosigkeit gewesen sei.

Zutreffend geht das SG davon aus, daß die Teilrente nur solange auf die Vollrente zu erhöhen ist, wie der Verletzte infolge des Arbeitsunfalles ohne Arbeitseinkommen ist, d.h. wenn und solange der Arbeitsunfall dafür die wesentliche Ursache i.S. der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm ist (BSGE 30, 64, 65). Der Arbeitsunfall braucht dabei nicht die alleinige oder allein wesentliche Ursache zu sein.

Der Kausalzusammenhang ist vielmehr schon dann gegeben, wenn der Arbeitsunfall eine von mehreren wesentlichen Ursachen dafür ist, daß der Verletzte ohne Arbeitseinkommen ist (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand Dezember 1976 II S. 578i m.w.N.). Als Ursachen und Mitursachen sind, allerdings - unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes - nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSGE 1, 72, 76 und Brackmann a.a.O., S. 480 f.). Welche Bedingungen und Mitbedingungen wesentlich für den Erfolg sind, bedarf einer wertenden Abwägung hinsichtlich ihrer Qualität, die ihr die Auffassung des praktischen Lebens beimißt (BSGE a.a.O. und Brackmann a.a.O. S. 480i mit zahlreichen Nachweisen). So hat der erkennende Senat einen Anspruch auf Erhöhung der Teilrente nach § 587 Abs. 1 RVO grundsätzlich auch für die Zeit einer Umschulung bejaht, weil die Arbeitseinkommenslosigkeit des Verletzten während dieser Zeit mittelbar durch den Arbeitsunfall verursacht und deshalb wesentlich für den Arbeitseinkommensverlust gewesen sei (SozR Nr. 9 zu 5 587 RVO).

Für die sich an eine Umschulung oder sonstige Maßnahme der Berufshilfe, während deren Dauer der Verletzte kein Erwerbseinkommen erzielen kann anschließende Zeit, in der es dem Verletzten, wie hier dem Kläger, auch mit Hilfe des Arbeitsamtes nicht gelingt, einen Arbeitsplatz zu erhalten, obwohl er arbeitsfähig und arbeitswillig ist, kann grundsätzlich nichts anderes gelten. Auch in diesem Falle ist der Arbeitsunfall weiterhin wesentliche (Mit-)Ursache für die Einkommenslosigkeit, wenn der Unfall - wie hier - zum Verlust des seitherigen Arbeitsplatzes geführt hat. Auch gegenüber einer konjunkturbedingten schlechten Arbeitsmarktlage wiegt dann der Verlust des alten Arbeitsplatzes infolge des Arbeitsunfalls so schwer, daß er nicht als unwesentlich in den Hintergrund tritt, wenn der Verletzte zwischenzeitlich noch keine neue Erwerbstätigkeit gefunden hatte. Die Beklagte beruft sich demgegenüber auf Lauterbach (Unfallversicherung, Stand Oktober 1976, Anm. 3 zu § 587 S. 517/1), wonach der Erhöhungsanspruch dann nicht bestehe, wenn der Verletzte infolge einer konjunkturellen schlechten Arbeitsmarktlage ohne Arbeitseinkommen sei. Lauterbach verweist insoweit auf die Ausführungen von Linthe in BG 1963 Sonderheft UVNG S. 5, 15 zu § 587 RVO. Beiden Autoren kann jedoch nur dahin gefolgt werden, daß der Erhöhungsanspruch dann nicht gegeben ist, wenn die schlechte Arbeitsmarktlage die alleinige rechtlich wesentliche Ursache im obengenannten Sinne für die Arbeitslosigkeit des Verletzten ist, etwa wenn der Verletzte Arbeit gefunden hat, dann aber wegen Betriebseinschränkung wieder entlassen worden ist (Lauterbach a.a.O.). So heißt es dem auch wesentlich deutlicher im Schriftlichen Bericht des Sozialpolitischen Ausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. IV 938 (neu) S. 13 unten zu § 586): "Es sollte jedoch streng unterschieden werden, ob der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls oder aus anderen Gründen, wie z.B. auf Grund einer besonderen Arbeitsmarktsituation, arbeitslos geworden ist". Zutreffend sieht daher Brackmann (a.a.O. S. 578k oben) den Arbeitsunfall auch dann als wesentliche Ursache des fehlenden Arbeitseinkommens an, wenn es dem Verletzten wegen Arbeitsplatzmangels nicht möglich ist, einen Arbeitsplatz zu erhalten.

Allerdings steht der Erhöhungsanspruch nach § 587 Abs. 1 RVO einem Verletzten nur zu, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Aussicht besteht, daß er in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen wird (vgl. die Urteile des 2. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - vom 27. August 1969 - BSGE 30, 64 ff.; BG 1970 S. 276; Lauterbach, Kartei Nr. 7682 bis 7684). Diese Voraussetzung ist hier schon deshalb erfüllt, weil der Kläger bereits am 1. Juni 1976 wieder erwerbstätig geworden und demgemäß nur ein Zeitraum von weniger als einem Jahr hier streitig ist. Im übrigen muß grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß ein Verletzter, der Berufshilfe von einer Berufsgenossenschaft erhalten hat, in absehbarer Zeit wieder Erwerbseinkommen erzielen kam. Andernfalls wäre der Zweck der Hilfe zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben verfehlt, es sei dem, daß andere Gründe, wie etwa Arbeitsunwilligkeit, im Vordergrund stehen oder die Maßnahme erfolglos war und die Verletzungsfolgen derart sind, daß es für den Verletzten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch keine Beschäftigungsmöglichkeiten mehr gibt. Bei einem erfolgreich umgeschulten Verletzten sind die Aussichten, wieder einen Arbeitsplatz zu finden, in der Regel wesentlich verbessert. Es würde daher dem Gesetzeszweck des § 578 Abs. 1 RVO widersprechen, der dahin geht, dem infolge eines Arbeitsunfalls vorübergehend erwerbslosen Verletzten einen Ausgleich seines Einkommensausfalles zu verschaffen, wenn man im trotz erfolgreicher Umschulung den Erhöhungsanspruch des § 587 Abs. 1 nur deshalb versagen wollte, weil er wegen einer schlechten Arbeitsmarktlage zunächst noch keinen Arbeitsplatz in seinem neuen Beruf finden konnte. Ob etwas anderes dann zu gelten hat, wenn in einem bestimmten Bereich des Erwerbslebens eine unabsehbare Dauerkrise oder eine Umstrukturierung eintritt, die mit dem Wegfall eines wesentlichen Teils von Arbeitsplätzen einhergeht, für die der Verletzte umgeschult worden war, braucht hier nicht entschieden zu werden.

Dem Kläger steht daher für die streitige Zeit der Anspruch auf Erhöhung seiner Teilrente auf die Vollrente zu, so daß das angefochtene Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte entsprechend zu verurteilen war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518758

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