Entscheidungsstichwort (Thema)
Negativer Kompetenzkonflikt. Zuständigkeitsbestimmung. Durchbrechung der Bindungswirkung. Unvertretbarkeit. Willkür
Leitsatz (redaktionell)
1. Nur in seltenen Ausnahmefällen kommt eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht.
2. Dabei kommt es darauf an, ob die vom untergeordneten Gericht vertretene Rechtsauffassung noch vertretbar ist; Unvertretbarkeit und damit Willkür im hiesigen Sinne liegt (erst) vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jeden sachlichen Grunds entbehrt, sodass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt.
3. Objektiv willkürlich ist eine Entscheidung etwa dann, wenn das Gericht eine einschlägige Norm nicht angewendet hat; dies wäre auch dann der Fall, falls dem Gericht lediglich versehentlich ein nachvollziehbarer Fehler unterlaufen ist.
4. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts hat zu erfolgen, wenn dies zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit notwendig ist; dies ist der Fall, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Verweisungsbeschlusses kommt und keines der infrage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten.
Normenkette
SGG § 57 Abs. 1 S. 1; SGG § 58 Abs. 1 Nr. 4; SGG § 98 S. 1; SGG § 99; SGG § 153 Abs. 1; GVG § 17a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
SG München (Entscheidung vom 02.01.2024; Aktenzeichen S 6 R 1/24)
LSG Berlin-Brandenburg (Entscheidung vom 07.08.2024; Aktenzeichen L 22 R 511/23)
Tenor
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg wird zum zuständigen Gericht bestimmt.
Gründe
1. Die Voraussetzungen einer Zuständigkeitsbestimmung nach
§ 58 Abs 1 Nr 4 SGG
("negativer Kompetenzkonflikt") durch das BSG liegen vor. Zwar sind nach
§ 98 Satz 1 SGG
iVm
§ 17a Abs 2 Satz 3 GVG
rechtskräftige Verweisungsbeschlüsse für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, grundsätzlich bindend. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts hat aber zu erfolgen, wenn dies zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Verweisungsbeschlusses kommt und keines der infrage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten. Dies ist vorliegend der Fall. Das LSG Berlin-Brandenburg konnte von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen
(vgl
BSG vom 27.5.2004 - B 7 SF 6/04 S
- SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 8; zuletzt
BSG vom 8.12.2023 - B 11 SF 8/23 S
- juris
RdNr 1
)
.
2. Zuständig ist das LSG Berlin-Brandenburg. Die Verweisung durch das SG München an das LSG Berlin-Brandenburg ist für dieses bindend.
a) Das Gesetz schreibt in
§ 98 Satz 1 SGG
iVm
§ 17a Abs 2 Satz 3 GVG
vor, dass eine Verweisung wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend ist. Nur in seltenen Ausnahmefällen kommt eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht
(
BSG vom 5.1.2017 - B 4 SF 40/16 S
- juris
RdNr 4
mwN;
BSG vom 25.11.2019 - B 11 SF 10/19 S
- juris
RdNr 5
; zuletzt - auch zum Folgenden -
BSG vom 14.6.2023 - B 11 SF 5/23 S
- juris
RdNr 2
;
BSG vom 8.12.2023 - B 11 SF 8/23 S
- juris
RdNr 2
)
. Eine - aus Sicht des übergeordneten Gerichts - fehlerhafte Auslegung des Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Es kommt daher nicht darauf an, ob das übergeordnete Gericht die gleiche Rechtsauffassung vertreten würde, sondern ob die vom untergeordneten Gericht vertretene Rechtsauffassung noch vertretbar ist. Unvertretbarkeit und damit Willkür im hiesigen Sinne liegt (erst) vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jeden sachlichen Grunds entbehrt, sodass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt
(stRspr; vgl nur
BSG vom 21.2.2012 - B 12 SF 7/11 S
- juris
RdNr 9
;
BSG vom 13.12.2016 - B 4 SF 4/16 R
- juris
RdNr 7
;
BSG vom 23.4.2018 - B 11 SF 4/18 S
- juris
RdNr 6
;
BSG vom 25.11.2019 - B 11 SF 10/19 S
- juris
RdNr 5
)
. Ist eine Entscheidung derart unverständlich, dass sie sachlich schlechthin unhaltbar ist, ist sie objektiv willkürlich
(
BVerfG vom 7.4.1981 - 2 BvR 911/80
-
BVerfGE 57, 39
≪42≫ - juris RdNr 10; BVerfG ≪Kammer≫ vom 9.3.2020 -
2 BvR 103/20
- juris RdNr 64)
. Maßgeblich ist, ob die Entscheidung im Ergebnis objektiv vertretbar ist
(vgl BVerfG ≪Kammer≫ vom 3.3.2015 -
1 BvR 3271/14
- juris RdNr 13 f; BVerfG ≪Kammer≫ vom 10.3.2022 -
1 BvR 484/22
- juris RdNr 10; BVerfG ≪Kammer≫ vom 18.7.2023 -
1 BvR 600/19
- juris RdNr 31;
BSG vom 8.12.2023 - B 11 SF 8/23 S
- juris
RdNr 2
)
. Auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an
(
BVerfG vom 7.4.1981 - 2 BvR 911/80
-
BVerfGE 57, 39
≪42≫ - juris RdNr 10; BVerfG ≪Kammer≫ vom 9.3.2020 -
2 BvR 103/20
- juris RdNr 64 mwN;
BSG vom 8.12.2023 - B 11 SF 8/23 S
- juris
RdNr 2
)
.
Objektiv willkürlich ist eine Entscheidung etwa dann, wenn das Gericht eine einschlägige Norm nicht angewendet hat
(stRspr; vgl etwa
BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1934/93
-
BVerfGE 96, 189
≪203≫ - juris RdNr 49; BVerfG ≪Kammer≫ vom 30.9.2022 -
2 BvR 2222/21
- juris RdNr 43 mwN)
. Dies wäre auch dann der Fall, falls dem Gericht lediglich versehentlich ein nachvollziehbarer Fehler unterlaufen ist
(
BSG vom 14.6.2023 - B 11 SF 5/23 S
- juris
RdNr 3
;
BSG vom 8.12.2023 - B 11 SF 8/23 S
- juris
RdNr 3
).
b) Nach diesen Maßstäben ist der Verweisungsbeschluss des SG München nicht willkürlich. Das SG München ist zum einen davon ausgegangen, dass es örtlich nicht zuständig ist, weil der Kläger seinen Wohnsitz in Berlin habe. Dies ist - hiervon geht auch das vorlegende LSG Berlin-Brandenburg aus - jedenfalls nicht willkürlich, sondern trifft ausweislich der vom Kläger in seiner Klageschrift als Wohnadresse angegebenen Anschrift zu. Gemäß
§ 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG
ist örtlich zuständig das SG, in dessen Bezirk der Kläger zur Zeit der Klageerhebung seinen Sitz oder Wohnsitz oder in Ermangelung dessen seinen Aufenthaltsort hat.
Das SG München ist zum anderen davon ausgegangen, dass das SG Berlin nicht mehr "funktionell" (gemeint: instanziell) zuständig sei und hat den Rechtsstreit sogleich an das LSG Berlin-Brandenburg verwiesen, weil dort ein Berufungsverfahren gegen eine Entscheidung des SG Berlin anhängig sei, auf die sich die neue Klage beziehe. Angesichts der Nähe des Streitgegenstandes der neuen Klage, mit der der Kläger einen höheren Zinsanspruch gegen die Beklagte aufgrund einer Rentennachzahlung geltend macht, zu der vom SG Berlin bereits entschiedenen und nun im Berufungsverfahren beim LSG Berlin-Brandenburg anhängigen Klage, die ebenfalls die Rentennachzahlung betrifft, erscheint es nicht unvertretbar, hierin eine Klageänderung iS des
§ 99 SGG
zu sehen, die auch noch im Berufungsverfahren möglich ist
(
§ 153 Abs 1 SGG
; vgl - unter Aufgabe früherer Senatsrechtsprechung - auch
BSG vom 28.2.2024 - B 4 AS 18/22 R
- juris
RdNr 50
- zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen)
. Ob der Senat diese Annahme selbst vertreten würde, bedarf hier keiner Entscheidung. Die dargelegte Auffassung entbehrt jedenfalls nicht jeden sachlichen Grunds, weshalb der Beschluss des SG München im Ergebnis nicht willkürlich ist. Nicht willkürlich ist auch die Entscheidung des SG München, zugleich wegen örtlicher und instanzieller Zuständigkeit zu verweisen, auch wenn es nahe gelegen hätte, nur eine Verweisung wegen örtlicher Zuständigkeit auszusprechen, sodass die Klärung der instanziellen Zuständigkeit innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit der Länder Berlin und Brandenburg hätte erfolgen können
(vgl
BSG vom 9.3.2023 - B 11 SF 2/23 S
- juris
RdNr 4
)
.
Fundstellen
- Dokument-Index HI16650938