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BSG Urteil vom 28.01.1999 - B 8 KN 1/98 KR R

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Beteiligte

Bundesknappschaft

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. November 1997 aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25. Juli 1996 zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander in allen drei Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für die selbstbeschaffte spezielle Säuglingsnahrung „P.”, für die die Eltern der Klägerin in der Zeit vom 29. Juni bis 2. September 1994 einen Gesamtbetrag in Höhe von 997,20 DM aufgewandt haben.

Seit ihrem zweiten Lebensmonat leidet die im Dezember 1993 geborene, bei der Beklagten familienversicherte Klägerin an Neurodermitis, bedingt durch eine Sensibilisierung gegen Kuhmilch.

Die unter Vorlage einer entsprechenden vertragsärztlichen Verordnung beantragte Übernahme der Mehrkosten für die Proteinhydrolysatnahrung „P.” lehnte die Beklagte zunächst formlos mit Schreiben vom 24. Juni 1994 und anschließend mit Bescheid vom 28. Juli 1994, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 1995 ab, weil ein Lebensmittel nicht dadurch zum Arzneimittel werde, daß ihm über seinen generellen Ernährungszweck hinaus eine spezifische krankheitsheilende Wirkung zukomme.

Während das Sozialgericht Dortmund (SG) die dagegen gerichtete Klage abgewiesen hat (Urteil vom 25. Juli 1996), hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) die Beklagte antragsgemäß verurteilt, der Klägerin wegen der Ernährung mit P. im Jahre 1994 DM 797,76 (nachgewiesene Beschaffungskosten abzüglich eines Eigenanteils von einem Fünftel) zu erstatten. Für grundsätzlich nicht unter den Arzneimittelbegriff fallende Lebensmittel gelte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dann eine Ausnahme, wenn ein Ausweichen auf andere unschädliche Nahrung nicht möglich sei und die Kosten der Krankenkost die des gewöhnlich gebrauchten Lebensmittels in einem Maße überstiegen, daß die Anschaffung auf eigene Kosten auch unter Berücksichtigung der Interessen der Solidargemeinschaft nicht mehr zumutbar sei. Ohne Rücksicht auf die individuellen wirtschaftlichen Verhältnisse des einzelnen Versicherten hätten die Krankenkassen einen dem therapeutischen Verwendungszweck entsprechenden Kostenanteil zu übernehmen, wenn der Teil der Herstellungskosten überwiege, der allein auf die therapeutische Wirkung des Mittels zurückzuführen sei (Hinweis auf Rechtsprechung des BSG zu Heilmitteln). Die Ausnahmeregelung der Nr 17.1 Buchst i der Arzneimittelrichtlinien (AMR), die den Versicherten bei bestimmten – bei der Klägerin nicht vorliegenden – Erkrankungen einen Anspruch auf Versorgung mit Lebensmitteln und Krankenkost gebe, stehe der Erstattung nicht entgegen. Der Anspruch auf Kostenübernahme im Falle der Unzumutbarkeit, eine derartige Spezialnahrung auf eigene Kosten anzuschaffen, bestehe neben den Ausnahmen der AMR.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 9. Dezember 1997 - 1 Kr 23/95 - eine Verletzung des §27 Abs 1 Satz 2 Nr 3, §31 Abs 1 und §13 Abs 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Die zu §182 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ergangene, vom LSG angewandte Rechtsprechung habe nicht den Arzneimittelbegriff modifiziert, sondern im Rahmen des Wortlauts des §182 Abs 1 Nr 1 RVO das gesetzliche Leistungsspektrum erweitert. Dies sei nach dem den Umfang der Krankenbehandlung bewußt abschließend regelnden Wortlaut des §27 Abs 1 Satz 2 SGB V nicht mehr möglich.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. November 1997 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25. Juli 1996 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG insgesamt für zutreffend und weist darauf hin, daß die von der Beklagten in Bezug genommene Entscheidung des BSG im Widerspruch zu einem Urteil des erkennenden Senats vom 27. September 1994 – 8 RKn 9/92 – stehe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß §124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung nach §13 Abs 3 SGB V. Die Beklagte hat die Versorgung mit „P.” zu Recht abgelehnt, denn die Versorgung mit der Hydrolysatnahrung gehört nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung.

Nach §13 Abs 3 SGB V hat die Krankenkasse, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewendeten Kosten zu erstatten. Da der Kostenerstattungsanspruch an die Stelle eines an sich gegebenen Sachleistungsanspruchs tritt, kann er nur bestehen, soweit die selbstbeschaffte Leistung zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Krankenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben.

Zwar hat die Klägerin als gemäß §10 Abs 1, Abs 2 Nr 1 und Abs 3 SGB V Familienversicherte grundsätzlich nach §11 Abs 1 Nr 4 SGB V einen Anspruch auf Leistungen zur Behandlung ihrer Neurodermitis, die als behandlungsbedürftiger regelwidriger Körperzustand Krankheit iS des §27 Abs 1 Satz 1 SGB V ist. Die Versorgung mit „P.” ist jedoch nicht von dem in §27 Abs 1 Satz 2 SGB V umschriebenen Krankenbehandlungsanspruch gedeckt. Die von der Krankenkasse zu gewährende Krankenbehandlung umfaßt neben der ärztlichen Behandlung ua nach §27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V die Versorgung mit Arznei-, Verbands-, Heil- und Hilfsmitteln.

Einschlägig kann insoweit allenfalls ein Anspruch auf Versorgung mit einem Arzneimittel sein. Die Hydrolysatnahrung „P.” ist kein Heilmittel im Sinne der genannten Vorschrift, weil sie zum Verzehr und nicht zur äußeren Einwirkung auf den Körper bestimmt ist. Nach überwiegender Auffassung wirken Arzneimittel durch Einnehmen, Einspritzen, Einreiben oder Einatmen auf die inneren Organe, während Heilmittel überwiegend äußerlich wirken (BSG vom 21. November 1991 SozR 3-2200 §182 Nr 11 S 47 mwN; Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Kommentar, München, Stand: April 1998, §27 SGB V RdNr 24; Höfler in: Kasseler Kommentar, Stand: Juni 1998, §32 SGB V RdNr 7; Schmidt in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Stand: Mai 1998, §27 SGB V RdNrn 337 und 349). Zwar tritt die Wirkung von „P.” letztlich am Körperäußeren ein, indem durch die besondere Nahrung die bei Einnahme normaler Nahrung auftretenden Ekzeme vermieden werden. Dennoch wirkt die Nahrung ebenso wie andere orale Medikamente zur Behandlung von Hautkrankheiten durch die Einnahme über das Körperinnere.

Das Präparat „P.” ist jedoch auch kein Arzneimittel iS des §27 SGB V. Der Begriff des Arzneimittels wird im SGB V selbst nicht definiert. Nach §2 Abs 1 Arzneimittelgesetz (AMG) sind darunter Substanzen zu verstehen, deren bestimmungsgemäße Wirkung darin liegt, Krankheitszustände zu erkennen, zu heilen, zu bessern, zu lindern oder zu verhüten. Insoweit stellen das SGB V und das AMG auf denselben Zweck ab (BSG vom 8. Juni 1993, BSGE 72, 252, 255 = SozR 3-2200 §182 Nr 17 S 82; Höfler in: Kasseler Kommentar, §31 RdNr 4; Schmidt in Peters, aaO, §31 SGB V RdNr 66; von Maydell in: Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – Stand: März 1998; §27 SGB V, RdNr 85; Schiwy, Deutsches Arzneimittelrecht, AMG, Kommentar, Stand: Juli 1998, §2 AMG Anm III 1). Zwar kann nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG wegen der unterschiedlichen Zielsetzung des AMG und des SGB V nicht von der Deckungsgleichheit beider Arzneimittelbegriffe ausgegangen werden (BSG vom 21. November 1991 SozR 3-2200 §182 Nr 11 S 46; BSG vom 10. Mai 1990, BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 §27 Nr 2 S 4). Gleichwohl hat das AMG in der neueren Rechtsprechung des BSG an Bedeutung gewonnen. Nicht nur die ausdrückliche Versagung, sondern auch ein sonstiges Fehlen der arzneimittelrechtlichen Zulassung für ein zulassungspflichtiges Arzneimittel führen dazu, daß das Mittel nach dem SGB V nicht verordnungsfähig ist (BSG vom 8. Juni 1993, BSGE 72, 252, 257 = SozR 3-2200 §182 Nr 17 S 84; BSG vom 23. Juli 1998 - B 1 KR 19/96 R - Umdruck S 5 f; ebenso Schlenker, SGb 1996, S 9, 10; Schmidt in Peters, aaO, §31 SGB V RdNr 81). Im Anschluß an den 1. Senat (BSG vom 9. Dezember 1997, BSGE 81, 240, 242 f = SozR 3-2500 §27 Nr 9 S 28 f) geht der Senat ferner davon aus, daß jedenfalls auch für die hier interessierende Unterscheidung und Abgrenzung zwischen Arzneimitteln auf der einen und Nahrungsmitteln auf der anderen Seite auf das AMG zurückgegriffen werden kann.

Der Senat läßt offen, ob bereits für den streitigen Zeitraum eine noch weitergehende Übereinstimmung des Arzneimittelbegriffs des SGB V und das AMG anzunehmen ist. Ab dem 1. Juli 1997 stellt sich das Problem so nicht mehr. Denn mit der an diesem Tage in Kraft getretenen Änderung des §31 Abs 1 SGB V durch das 2. GKV-Neuordnungsgesetz - 2. GKV-NOG vom 23. Juni 1997 (BGBl I 1520, 1522) ist nur noch die Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung umfaßt. Apothekenpflicht besteht nach §43 Abs 1 AMG ausschließlich für diejenigen Mittel, die Arzneimittel iS des §2 AMG sind. Jedenfalls damit ist der Arzneimittelbegriff des AMG auch für das SGB V maßgeblich geworden.

Wie §2 Abs 3 Nr 1 AMG ausdrücklich klarstellt, sind Lebensmittel iS des §1 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes (LMBG) keine Arzneimittel. Lebensmittel sind nach §1 Abs 1 LMBG Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen verzehrt zu werden; ausgenommen sind Stoffe, die überwiegend dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuß verzehrt zu werden. Entscheidend ist demnach der überwiegende Zweck des Mittels. Trotz der zweifellos krankheitslindernden Eigenschaften von „P.” ist der Einsatz des Mittels dadurch gekennzeichnet, daß er an die Stelle von für die Klägerin unzuträglichen Nahrungsmitteln tritt. Ursächlich für die heilende Wirkung ist demnach nicht in erster Linie die Einnahme des Mittels, sondern die Vermeidung des in normaler Nahrung enthaltenen Milcheiweißes. Im Vordergrund steht daher der Ersatz der unzuträglichen Nahrung durch die Hydrolysatnahrung und nicht die möglicherweise auch vorhandene heilende Wirkung. Folglich dient „P.” überwiegend dem Zweck der Ernährung und ist daher grundsätzlich kein vom Versorgungsanspruch nach SGB V umfaßtes Arzneimittel.

Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn zu der heilenden Wirkung besonders gravierende Umstände hinzutreten, zB, wenn der Rückgriff auf die einem gewöhnlichen Haushalt zugänglichen Ernährungsstoffe unmöglich ist oder die Kosten des erforderlichen Mittels die des gewöhnlich gebrauchten Mittels in unzumutbarem Maße übersteigen. An dieser zu §182 RVO entwickelten Rechtsprechung (BSG vom 23. März 1983, SozR 2200 §182 Nr 88 S 182 f und 184; BSG vom 23. März 1988, BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 §182 Nr 109 S 234) hält der Senat für den Rechtszustand ab Inkrafttreten des SGB V nicht mehr fest. Insoweit gibt er seinen im Urteil vom 27. September 1994 - 8 RKn 9/92 - (USK 94110) zum Anspruch auf Versorgung mit einem Heilwasser vertretenen Rechtsstandpunkt ausdrücklich auf und schließt sich insoweit der Rechtsprechung des 1. Senats im Urteil vom 9. Dezember 1997 (aaO) an.

Der jetzige §27 Abs 1 Satz 2 SGB V regelt den Umfang der Krankenbehandlung bewußt abschließend (Begründung zum Entwurf des Gesundheitsreformgesetzes, BT-Drucks 11/2237 S 170 zu Art 1 §27). Kommt den zur Krankenbehandlung eingesetzten Mitteln eine Doppelfunktion dergestalt zu, daß sie sowohl Heilzwecken dienen als auch Gegenstände des allgemeinen Lebensbedarfs sind, kann auf die neben der Heilwirkung vorliegenden besonders gravierenden Umstände nicht mehr abgestellt werden. Entscheidend ist allein der überwiegende Zweck des Mittels.

Zwar hat der 1. Senat für den hier nicht betroffenen Bereich der Heilmittel die zu §182 RVO ergangene Rechtsprechung weiterhin für anwendbar gehalten. Dabei hat er darauf abgestellt, welcher Zweck bei der Anschaffung im Vordergrund gestanden hat, so daß eine Kostentragungspflicht der Krankenkasse nur besteht, wenn die Heilwirkung überwiegt und die Bedeutung als Gebrauchsgegenstand für den Versicherten in den Hintergrund tritt (BSG vom 10. Mai 1995, SozR 3-2500 §33 Nr 15 S 65 f; BSG vom 18. Januar 1996 - 1 KR 8/95, Umdruck S 6 f; ebenso der 6. Senat: BSG vom 21. Juni 1989, BSGE 65, 154, 157 = SozR 2200 §368e Nr 13 S 34 f und BSG vom 10. Mai 1990, BSGE 67, 36, 37 = SozR 3-2500 §27 Nr 2 S 3, der in seinen Entscheidungen jedoch auch einen Anspruch auf Versorgung mit Haut- und Haarwaschmitteln im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nach den weiten Kriterien der auf der Grundlage der RVO entwickelten früheren Rechtsprechung verneint). Der Senat läßt offen, ob dieser Rechtsprechung zu folgen ist.

Unerheblich ist, daß nach Nr 17.1 Buchst i AMR ua bei angeborenen Enzymmangelkrankheiten – ausnahmsweise – Eiweißhydrolysate in der vertragsärztlichen Versorgung verordnet werden dürfen. Da die Klägerin nach den für den Senat gemäß §163 SGG bindenden Feststellungen des LSG nicht an einer derartig angeborenen Erkrankung leidet, kann sie sich nicht unmittelbar auf jene Vorschrift berufen. Für ihren Fall führen AMR und Gesetz zu demselben Ergebnis. Der Senat kann offenlassen, ob die erwähnte Bestimmung der AMR mit dem SGB V in Einklang steht.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI543036

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