1. Gegenstand der Ermessensentscheidung

 

Rz. 53

[Autor/Stand] Nach § 396 Abs. 1 AO "kann" nach Klageerhebung das Gericht, im Ermittlungsverfahren die Ermittlungsbehörde, das Strafverfahren aussetzen, muss dies aber nicht tun. Die Entscheidung darüber ist in sein (ihr) pflichtgemäßes Ermessen gestellt[2]. Damit hat der Angeklagte (Beschuldigte) keinen Anspruch auf Aussetzung des Verfahrens[3]. Dies gilt selbst dann, wenn die entscheidungserheblichen steuerrechtlichen Vorfragen schwierig sind. Die Entscheidung ist jedoch nach pflichtgemäßem Ermessen und mithin ermessensfehlerfrei zu treffen[4]. Ein pflichtwidriges Übergehen oder eine ermessensfehlerhafte Ablehnung der Aussetzung ist als Verfahrensfehler nach § 337 StPO revisibel (s. Rz. 80).

 

Rz. 54

[Autor/Stand] Bei der Ermessensentscheidung ist nicht nur darüber zu befinden, ob das Strafverfahren ausgesetzt werden soll, sondern ggf. auch, wann dies geschehen soll und für welche Dauer[6].

[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand: 01.03.2024
[2] St. Rspr., vgl. den Vorprüfungsausschuss des Zweiten Senats, BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, wistra 1991, 175; BVerfG v. 15.4.1985 – 2 BvR 405/85, NJW 1985, 1950; BVerfG v. 4.4.1985 – 2 BvR 107/85, NStZ 1985, 366; BGH v. 24.10.1984 – 3 StR 315/84, wistra 1985, 74.
[3] BGH v. 28.1.1987 – 3 StR 373/86, wistra 1987, 139; BGH v. 13.1.1988 – 3 StR 450/87, wistra 1988, 196; gl. A. Tormöhlen in HHSp., § 396 AO Rz. 71; Hadamitzky/Senge in Erbs/Kohlhaas, § 396 AO Rz. 1; Rößler, DStZ 1990, 514; Jäger in JJR9, § 396 AO Rz. 32.
[4] BGH v. 28.1.1987 – 3 StR 373/86, NJW 1987, 1274 = wistra 1987, 139; ebenso Hadamitzky/Senge in Erbs/Kohlhaas, § 396 AO Rz. 1.
[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand: 01.03.2024
[6] Jäger in JJR9, § 396 AO Rz. 33.

2. Grundsätze der Ermessensausübung

a) Umfassende Abwägung

 

Rz. 55

[Autor/Stand] Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind alle Umstände, die im konkreten Fall für und gegen eine Aussetzung des Steuerstrafverfahrens sprechen, gegeneinander abzuwägen. Dabei ist bei der Ausübung des Ermessens auf die Funktion des § 396 AO (s. Rz. 13 ff.) und auf die allgemein für das Prozessrecht geltenden Grundsätze zurückzugreifen. Ermessen bedeutet sachverhalts- und gegenwartsnahe Rechtskonkretisierung materiellen Rechts im Einzelfall. Dadurch ist eine am Einzelfall orientierte Rechtsbildung möglich. Dies bedeutet jedoch nicht die Freistellung vom Gesetzeswillen, sondern dessen Konkretisierung[2]. Die Entscheidung darüber, ob das Verfahren auszusetzen ist, trifft das Gericht in Ansehung verfassungsrechtlicher Grundsätze (Willkürverbot, Rechtsstaatlichkeit) nach pflichtgemäßem Ermessen auch von Amts wegen[3]. Die Entscheidung muss sich dabei rational nachvollziehbar von den allgemeinen Erfordernissen des Rechtsstaates leiten lassen. Allgemeine verfassungsrechtliche Grundsätze wirken kraft Vorrangs der Verfassung unmittelbar auf die Ermessensentscheidung ein.

Dazu zählen die Prinzipien des geringstmöglichen Eingriffs und der Verhältnismäßigkeit sowie das Beschleunigungsgebot. Zwischen diesen teils kollidierenden Interessen muss eine Abwägung erfolgen (s. Rz. 20). Bei der Prüfung ist auch zu berücksichtigen, dass die Aussetzung jederzeit widerrufen werden kann[4].

b) Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen

 

Rz. 56

[Autor/Stand] In die vorzunehmende Abwägung ist der Sinn und Zweck des § 396 AO einzustellen, der grds. für eine Aussetzung des Steuerstrafverfahrens spricht. So besteht der Zweck der Norm nach der heute h.M. im Wesentlichen in der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen im Steuerstrafverfahren und im Besteuerungsverfahren (s. Rz. 13 ff.). Insoweit liegt die Aussetzung auch im öffentlichen Interesse, da nicht nur das Vertrauen des Betroffenen, sondern auch das der Öffentlichkeit in die Rechtspflege erschüttert wird[6], wenn im Strafverfahren eine Verurteilung erfolgt, und sodann im Besteuerungsverfahren festgestellt wird, dass nach der Sachlage ein Steueranspruch nicht bestand oder eine Steuerverkürzung nicht eingetreten ist, gleichgültig, ob mit dem Rechtsmittel gegen das Strafurteil noch eine Korrektur erfolgen kann oder ob nach Eintritt der Rechtskraft dieses Urteil sogar diese Möglichkeit verschlossen ist. Mit Recht weist Blumers[7] auch darauf hin, dass eine spätere abweichende steuerrechtliche Entscheidung dem Strafurteil sowohl die generalpräventive als auch die spezialpräventive Wirkung nimmt.

 

Rz. 57

[Autor/Stand] Insoweit wird die Auffassung vertreten, dass bei substantiell steuerlichen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung der Finanzverwaltung und der Finanzgerichtsbarkeit ein Interpretationsvorrang zukomme, zu dessen Wahrung das Strafverfahren bis zur endgültigen Klärung auszusetzen sei[9]. Noch weitergehend befürwortet Kirchhof[10] eine strikte Bindung des Steuerstrafrechts an das Besteuerungsverfahren. Danach soll ein (auch unrichtiger) bestandskräftiger Steuerbescheid für die strafrechtliche Beurteilung der Steuerverkürzung verbindlich sein.

Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden[11]. Wie bereits die Vorschrift des § 393 AO zeigt, stehen Steuer- und Strafverfahren selbst...

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