Leitsatz
Für eine Klage, mit der die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags ab dem Jahr 2020 geltend gemacht wird, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Steuerfestsetzung wegen dieses Punktes vorläufig ist und beim Bundesverfassungsgericht bereits ein einschlägiges Musterverfahren (hier: 2 BvR 1505/20) anhängig ist.
Normenkette
Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO, § 1 Abs. 1, § 3, § 4 SolZG 1995
Sachverhalt
Die Kläger wehrten sich mit der Klage gegen die Erhebung des SolZ seit 2019 (SolZ für 2020 sowie Vorauszahlungen für nachfolgende Jahre, jeweils vorläufig festgesetzt nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO). Im Zeitpunkt der Klageerhebung war beim BVerfG das Verfahren 2 BvR 1505/20 anhängig, in dem sich namhafte Mitglieder der FDP-Bundestagsfraktion mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Erhebung des SolZ nach 2019 wehren. Diese Verfassungsbeschwerden sind u.a. vor Ausschöpfung des Rechtswegs erhoben worden. Die Kläger im Besprechungsfall meinten vor allem deshalb, das anhängige Musterverfahren beseitige nicht das Rechtsschutzbedürfnis für ihre Klage, weil es mutmaßlich im dortigen Verfahren nicht zu einer Klärung der Sachfrage kommen werde.
Das FG hat die Klage als zulässig erachtet, aber abgewiesen (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.5.2022, 10 K 1693/21, Haufe-Index 15222116).
Entscheidung
Der BFH hat das anders beurteilt und nach Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage als unzulässig abgewiesen. Über die Erfolgsaussichten im anhängigen Musterverfahren habe der Senat nicht zu entscheiden. Das Verfahren 2 BvR 1505/20 sei jedenfalls nicht von vorherein aussichtslos, insbesondere hätten die dort für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde trotz fehlender Rechtswegerschöpfung vorgebrachten Argumente nicht so wenig Gewicht, "dass dem Verfahren von vornherein jede Erfolgsaussicht abzusprechen wäre". Für die Klage der Kläger fehlte deshalb das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis.
Hinweis
Das Besprechungsurteil wird eine Menge Enttäuschung verursachen, nicht nur bei den Klägern, sondern auch in interessierten Kreisen, die dem Vernehmen nach mit diesem Verfahren vor das BVerfG ziehen wollten, nachdem gegen das erste BFH-Urteil zur Verfassungsgemäßheit des SolZ nach 2019 (BFH, Urteil vom 17.1.2023, IX R 15/20, BFH/NV 2023, 339, 403, BFH/PR 2023, 133, BStBl II 2023, 351) eine Verfassungsbeschwerde nicht eingelegt worden war. Der Weg zum BVerfG ist zwar nicht versperrt; er wird dort in diesem Verfahren aber wohl nicht mehr zur Klärung der Frage führen, ob der SolZ nach 2019 noch erhoben werden darf.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH fehlt für die Klage das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Steuerbescheid (1) in dem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig ergangen ist, sich (2) die Streitfrage in einer Vielzahl im Wesentlichen gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und wenn (3) beim BVerfG bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren anhängig ist. Streitig war allein die dritte Voraussetzung. Dazu gilt im Einzelnen:
2. Klage- und Musterverfahren müssen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleichgelagert sein. In dem Musterverfahren darf es nicht um einen anderen Sachverhalt gehen, der zusätzliche, möglicherweise sogar vorrangige Streitfragen aufwirft. Klage- und Musterverfahren müssen zudem dieselben Vorschriften, nicht aber notwendig dasselbe Streitjahr betreffen.
3. Die Anforderungen für die Annahme eines nicht von vornherein aussichtslosen Musterverfahrens, das beim BVerfG anhängig ist, dürfen nicht überspannt werden. Die dort vorgebrachten Argumente dürfen aber nicht so wenig Gewicht haben, dass dem Verfahren von vornherein eine Erfolgsaussicht abzusprechen ist. Unerheblich ist dagegen, ob und in welchem Umfang das Musterverfahren letztlich Erfolg haben wird.
4. Etwas anderes (Rechtsschutzbedürfnis) gilt nur ausnahmsweise, wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substanziiert geltend gemacht werden, die es rechtfertigen, trotz Anhängigkeit des Musterverfahrens Rechtsschutz gegen den im Streitpunkt für vorläufig erklärten Bescheid zu gewähren.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 26.9.2023 – IX R 9/22