Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Cannabis bei Alkoholerkrankung. Anwendbarkeit von Therapiealternativen. keine Ersetzung der begründeten Einschätzung des Vertragsarztes durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens. allein medizinische Gründe maßgebend

 

Orientierungssatz

1. Ein Versicherter hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten zur Behandlung seiner Alkoholerkrankung, wenn Therapiealternativen noch zur Verfügung stehen.

2. Die Frage, ob eine Therapiealternative nicht zur Anwendung kommen kann, bedarf der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, die nicht durch eigene Ermittlungen des Gerichts, etwa im Wege der Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens, ersetzt werden kann.

3. Für die Frage, ob eine Therapiealternative nicht zur Anwendung kommen kann, sind allein medizinische Gründe, nicht aber Aspekte der persönlichen Lebensführung oder vermeintliche Schwierigkeiten im Berufsleben maßgebend (vgl LSG Stuttgart vom 27.4.2021 - L 11 KR 2148/20).

 

Nachgehend

BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 17.08.2022; Aktenzeichen 1 BvR 1345/22)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23. September 2020 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten.

Der 1951 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Am 17.02.2017 informierte er sich telefonisch bei der Beklagten bezüglich des Gesetzesentwurfs zu Cannabis (gemeint ist Art. 4 des späteren Gesetzes zur Änderung betäubungsrechtlicher und anderer Vorschriften vom 06.03.2017, BGBl I 2017, 403, 404). Auf die Mitteilung, dass die Beklagte hierzu noch keine Auskünfte geben könne, erklärte der Kläger, dass er sich gegebenenfalls später noch einmal melden werde.

Am 13.03.2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten telefonisch die Kostenübernahme der Medikamententherapie mit Cannabisblüten. In diesem Telefonat teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass eine Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) nötig sei und daher ein Arztfragebogen für den behandelnden Arzt zugesandt werde. Mit Schreiben vom gleichen Tag bat die Beklagte, aufgrund ihrer Bindung an vorgegebene Fristen, den Kläger, dass er den Fragebogen seinem Arzt spätestens nach drei Tagen übermittle. Mit Schreiben vom 28.03.2017 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass mangels Vorlage der angeforderten Unterlagen der Antrag nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abschließend bearbeitet werden könne. Er solle die angeforderten Unterlagen direkt an den MDK schicken. Die Entscheidung über den Antrag erhalte er innerhalb von 28 Tagen nach Eingang der Unterlagen beim MDK. Am 30.03.2017 teilte der Kläger telefonisch mit, dass er im Hinblick auf seine Alkoholerkrankung schon 15 Jahre Selbsttherapie mit Cannabis mache. Er finde keinen Arzt für die von der Beklagten geforderten Unterlagen. Dr. B. (sein bisheriger Arzt) sei schon abgesprungen. Die Beklagte erklärte ihm, dass sie aktuelle ärztliche Unterlagen benötige.

Mit Schreiben vom 04.04.2017 erklärte der Kläger gegenüber dem MDK, dass er Alkoholiker sei. Abgesehen von einem oder zwei Rückfällen sei er seit ca. 15 Jahren abstinent. Seinen Drang zum Alkoholkonsum habe er in den letzten Jahren in Eigentherapie mit Cannabis kompensiert. Im September 2016 sei sein Eigenanbau von der Polizei beschlagnahmt worden. Seitdem leide er vermehrt unter Stimmungswechseln (von aggressiver Hyperaktivität bis zu tiefer Niedergeschlagenheit) und schlechtem Schlaf. Zudem verspüre er einen vermehrten Drang nach Alkohol. Er müsse erhebliche Energie aufwenden, um nicht rückfällig zu werden. Seine Lebensqualität sei dadurch erheblich gemindert. Seinem Schreiben fügte der Kläger einen selbst ausgefüllten Arztfragebogen bei. Darin gab er unter anderem an, dass ihm Cannabis-Blüten verordnet werden sollen, wobei die optimale Darreichungsform und die Dosierung im Laufe der Therapie ermittelt werden müsse, da hierzu bisher keine Angaben möglich seien. Ferner übersandte der Kläger dem MDK eine ärztliche Bescheinigung des Allgemeinmediziners Dr. C. vom 10.04.2017. Dieser bescheinigte, dass dem Kläger, der sich neu in seiner ärztlichen Behandlung befinde, der Selbstanbau von Cannabis nicht mehr möglich sei und daher die Genehmigung einer Cannabisversorgung beantragt werde. Zudem reichte der Kläger eine Bescheinigung von Dr. D. vom Suchthilfezentrum E-Stadt vom 01.12.2010 ein, der bestätigte, dass Tetrahydrocannabinol (THC) aus fachlicher Sicht in Einzelfällen durchaus geeignet sei, das alkoholtypische Craving beherrschbar zu machen. THC könne über das Medikament Dronabinol oral verabreicht werden. In dem darüber hinaus vorgelegten Gutachten nach Aktenlage vom 04.10.2010, das allerdings allein auf Basis von Telefon- und E-Mail-Kontakt zwischen Gutachter un...

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