Rz. 154

Erstattet der Arbeitgeber eine Anzeige bei der Arbeitsverwaltung, ist diese jedoch aus einem der o. g. Gründe fehlerhaft, gilt Folgendes:

6.6.2.1 Frühere Rechtsprechung vor "Junk"

 

Rz. 155

Nach früherer Rechtsprechung des BAG vor dem EuGH-Urteil in Sachen "Junk" führte ein Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Anzeigepflicht nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung[1] (vgl. auch Rz. 15, 34, 172). Vielmehr unterlag der Arbeitgeber einer Entlassungssperre, solange keine wirksame Massenentlassungsanzeige erstattet war, d. h. der Arbeitgeber blieb während der Dauer der Entlassungssperre verpflichtet, den Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen und ihm aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs (§ 615 BGB) sein Arbeitsentgelt weiterzuzahlen.[2] Die Entlassungssperre trat allerdings nur ein, wenn sich der Arbeitnehmer darauf berief.[3] Die Rechtsfolgen gegenüber dem Ansatz, der von einer Unwirksamkeit der Kündigung ausging, unterschieden sich nur darin, dass bei einer bloßen Entlassungssperre der Arbeitgeber nachbessern, also die nicht erteilte Auskunft und die unterlassene Beratung nachholen konnte, während er bei der Unwirksamkeit der Kündigung erneut kündigen müsste, nachdem alle Voraussetzungen des § 17 KSchG nachgeholt worden sind.[4]

[1] BAG, Urteil v. 18.9.2003, 2 AZR 79/02, NZA 2004, 375, 380 ff.; offengelassen von BAG, Urteil v. 23.3.2006, 2 AZR 343/05, NZA 2006, 971, Rz. 16.
[3] BAG, Urteil v. 13.4.2000, 2 AZR 215/99, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 13 zu unter B III 2 b.
[4] BAG, Urteil v. 18.9.2003, 2 AZR 79/02, NZA 2004, 375, 381; BAG, Urteil v. 24.10.1996, 2 AZR 895/95, AP KSchG 1969 § 17 Nr. 8 zu unter B II 1.

6.6.2.2 Heutige Rechtslage

 

Rz. 156

Ob in sog. Neufällen nach der Junk-Entscheidung des EuGH v. 27.1.2005 auch noch von einer bloßen Entlassungssperre ausgegangen werden kann, war anfangs umstritten (vgl. Rz. 16 ff., 40 ff.). Dies wurde teilweise bejaht[1], überwiegend jedoch abgelehnt[2]. Im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 MERL ("Die … Massenentlassungen werden frühestens 30 Tage nach Eingang der … Anzeige wirksam") und das Richtlinienverständnis des EuGH ("Nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie werden die Massenentlassungen, d. h. die Kündigungen der Arbeitsverträge, erst mit Ablauf der geltenden Frist wirksam"[3]) war es naheliegend, dass das BAG die Rechtsprechung des EuGH auch insoweit nachvollzog und bei fehlender, verspäteter, inhaltlich falscher, unvollständiger oder anderweitig fehlerhafter Massenentlassungsanzeige von der Unwirksamkeit der Kündigung des Arbeitgebers i. S. d. § 13 Abs. 3 KSchG ausging. Eine Kündigung ist daher nach bisheriger Rechtsprechung des BAG rechtsunwirksam (§ 134 BGB), wenn sie der Arbeitgeber vor einer nach § 17 KSchG erforderlichen, den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Anzeige ausgesprochen hat[4] bzw. – genauer gesagt – wenn die Kündigung dem Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt zugeht (§ 130 Abs. 1 BGB), zu dem die ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige noch nicht bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen ist[5]. Unterlaufen dem Arbeitgeber Fehler im Zusammenhang mit der sich aus § 17 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 KSchG ergebenden Einbindung des Betriebsrats in das Anzeigeverfahren, ist die Kündigung ebenfalls nichtig[6] (vgl. Rz. 131, 137a). Auch Fehler bei den sog. Muss-Angaben i. S. d. § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG führen zur Nichtigkeit der Kündigung[7] (vgl. Rz. 143). Der in einem Verstoß gegen § 17 Abs. 3 KSchG liegende Mangel der Anzeige wird durch einen die wirksame Erstattung der Massenentlassungsanzeige bestätigenden Bescheid der Agentur für Arbeit nicht geheilt.[8]

 

Rz. 157

Dieser Rechtsprechung ist grundsätzlich zuzustimmen, da die MERL auch arbeitnehmerschützende Wirkung hat (vgl. Rz. 6, 8) und sich aus Art. 6 MERL ergibt, dass den Arbeitnehmern (und/oder Arbeitnehmervertretern) administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen nach der MERL zur Verfügung stehen müssen. Im Übrigen ist in der MERL eine Rechtsfolge für den Fall, dass das Anzeigeverfahren vor der Erklärung einer Kündigung nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, abgesehen von der auslegungsfähigen Vorschrift des Art. 4 MERL (Entlassungssperre) nicht explizit vorgesehen. Enthält eine unionsrechtliche Richtlinie keine besondere Regelung für den Fall eines Verstoßes gegen ihre Vorschriften, obliegt den Mitgliedstaaten die Wahl einer Sanktion. Sie haben dabei darauf zu achten, dass die Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht gelten. Die Sanktion muss dabei wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Es sind also sowohl der Äquivalenzgrundsatz als auch der Effektivitätsgrundsatz (effet utile) zu beachten.[9] Zwar enthalten die §§ 17, 18 KSchG keine ausdrückliche Rechtsfolge für das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer Massenentlassungsanzeige, allerdings kommt den deutschen Umsetzungs...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge