Entscheidungsstichwort (Thema)
Eingliederungshilfe. Kostenübernahme. Petö-Therapie
Leitsatz (redaktionell)
1. Zuständig für die Eingliederungshilfe sind die Kreise und kreisfreien Städte bis zur Beendigung der Schulausbildung. Vor der Einschulung sind diese grds. nicht zuständig, werden aber bei nicht Weiterleitung des Antrags leistungszuständig.
2. Die Prüfung der Wesentlichkeit einer Behinderung ist wertend an deren Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft auszurichten, also wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt. Bei einer Trismomie 21 kann eine Wesentlichkeit angenommen werden.
3. Die Petö-Therapie kann eine Leistung zur sozialen Teilhabe i.S.d. § 113 Abs. 1 SGB IX darstellen. Im Vergleich zur medizinischen Rehabilitation zielen Leistungen zur sozialen Teilhabe darauf ab, den Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung von Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind, den Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen, oder den Personen, die in die Gesellschaft integriert sind, die Teilhabe zu sichern, wenn sich abzeichnet, dass sie von gesellschaftlichen Ereignissen und Bezügen abgeschnitten werden.
4. Es braucht keinen Vollbeweis, dass die Fortschritte kausal allein auf die Therapie zurückzuführen sind. Die Petö-Therapie als medizinisch-therapeutische, psychologische und pädagogische Ganzheitsmethode ist als sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie als Heilmittel in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnet werden darf.
Normenkette
AG-SGB IX NRW § 1 Abs. 2; SGB IX § 14; SGB IX a.F. §§ 99, 102 Abs. 1 Nr. 4, §§ 113, 2 Abs. 1 S. 1; SGB XII a.F. § 53 Abs. 1-2
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 03.08.2021 geändert. Der Bescheid vom 31.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2020 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für die von Februar 2020 bis März 2021 durchgeführte Petö-Therapie iHv 2.592 Euro zu übernehmen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Übernahme von Kosten für die Durchführung von Petö-Therapie von Februar 2020 bis März 2021.
Bei der am 00.00.2016 geborenen, in T wohnenden Klägerin besteht eine Trisomie 21 mit einer allgemeinen Entwicklungsstörung und komplexen Funktionseinschränkungen aller Bereiche sowie zahlreichen zT operierten Begleiterkrankungen (operierter Herzfehler, operierte Darmfehlbildung, Z. n. Hirninfarkt und Epilepsie). Sie besuchte nach Absolvierung einer interdisziplinären Frühförderung (IFF), deren Kosten durch die Beklagte übernommen worden waren, den heilpädagogischen Kindergarten N in F. Die Kosten für eine 1:1-Inklusionsassistenz trug der Landschaftsverband im Rahmen der Eingliederungshilfe. Aufgrund der Ausbreitung des Corona-Virus besuchte die Klägerin den Kindergarten im streitigen Zeitraum nur bis Mitte Februar 2020. Dort wurde die Klägerin durch in der Gruppe eingesetzte Fachkräfte und individuell heilpädagogisch betreut. Hinsichtlich der durchgeführten Maßnahmen im Einzelnen wird auf den in der Verwaltungsakte enthaltenen Bericht der Kita vom 19.04.2021 verwiesen. Inzwischen geht die Klägerin zur Schule, auch dort erhält sie eine 1:1-Assistenz.
Am 06.02.2020 beantragte die Klägerin über den Beigeladenen die Übernahme von Kosten für eine konduktive Förderung nach Petö für den Zeitraum vom 01.02.2020 bis zum 31.03.2021. Sie fügte einen Kostenvoranschlag über eine kontinuierliche Förderung und über Blockförderung, einen Therapieplan sowie einen Arztbrief der Universitätsklinik B (UKB) bei. Die Blockförderung ist coronabedingt nicht durchgeführt worden.
Mit Bescheid vom 31.03.2020 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Therapie diene nicht der sozialen, sondern der medizinischen Rehabilitation, und gehöre als solche nicht zu den anerkennungsfähigen Heilmitteln iS des Rechts der Gesetzlichen Krankenversicherung, was auch für die Eingliederungshilfe ein Ausschlusskriterium sei. Als heilpädagogische Leistung könne die Maßnahme nicht anerkannt werden, da die Ausbildung an einer Petö-Schule nicht die Anforderungen erfülle, die für heilpädagogische Leistungen in dem Landesrahmenvertrag nach § 131 SGB IX festgelegt seien. Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, es handele sich bei der Therapie um eine Maßnahme zur sozialen Teilhabe. Oberstes Ziel der Therapie sei nicht, sie bewegungsfähig zu machen, sondern die Förderung ihrer Persönlichkeitsentwicklung, ihres Selbstbewusstseins und ihrer sozialen und emotionalen Kompetenzen, der Entwicklung von Eigenaktivitäten sowie der Verbesserung ihrer Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer und Kooperationsfähigkeit. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.09.2020 (Zustellung am 24.09.2020) wies die Beklagte den Widerspruch unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter zurück. Zwar könn...