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BSG Beschluss vom 17.12.2019 - B 1 KR 73/18 B

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Bestellung eines besonderen Vertreters für einen nicht prozessfähigen Beteiligten. Ausnahme bei offensichtlicher Haltlosigkeit des Rechtsmittels. nicht isoliert gerichtlich angreifbare behördliche Verfahrenshandlung. Erforderlichkeit der Bestellung bei Zweifeln an der Prozessfähigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine nicht isoliert gerichtlich angreifbare behördliche Verfahrenshandlung ist jede behördliche Maßnahme, die im Zusammenhang mit einem schon begonnenen und noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsverfahren steht und der Vorbereitung einer regelnden Sachentscheidung dient.

2. Hat das Rechtsmittelgericht Zweifel an der Prozessfähigkeit eines Klägers, muss es einen besonderen Vertreter bestellen, wenn das Rechtsmittel des Klägers nicht offensichtlich haltlos ist.

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 56a S. 1, § 71 Abs. 1, § 72 Abs. 1, § 202 S. 1; ZPO § 547 Nr. 4; BGB § 104 Nr. 2

 

Verfahrensgang

SG Mainz (Gerichtsbescheid vom 23.08.2017; Aktenzeichen S 7 KR 151/14)

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 26.04.2018; Aktenzeichen L 5 KR 196/17)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I. Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger begehrt eine weitergehende ärztliche Begutachtung als Grundlage für Therapieentscheidungen.

Der Kläger wandte sich an die Beklagte mit der Bitte um Unterstützung bei der Therapie für seine vielfältigen Beschwerden (auch aus dem psychiatrischen Formenkreis). Der von der Beklagten damit beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) erstellte gutachtliche Stellungnahmen (12.4. und 13.8.2013) nach Aktenlage, gegen die der Kläger Einwände erhob und sie als ungenügend ansah. Das SG hat die Klage auf Fortsetzung der medizinischen Begutachtung abgewiesen. Der vom Kläger zulässig mit der allgemeinen Leistungsklage verfolgte Anspruch sei unbegründet. Versicherte hätten weder aus § 275 SGB V noch aus den §§ 13 bis 17 SGB I einen Begutachtungsanspruch (Gerichtsbescheid vom 23.8.2017). Der Kläger hat im Berufungsverfahren geltend gemacht, er benötige bei eingeschränkter Verhandlungsfähigkeit einen Vertreter. Ohne diesen erhalte er "kein echtes Gehör". Parallel dazu hat er Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt (Schreiben vom 21.9.2017). Das LSG hat einen Termin zur mündlichen Verhandlung am 26.4.2018 bestimmt und das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Der Kläger hat erneut und nunmehr ausdrücklich die Bestellung eines besonderen Vertreters beantragt (Telefax vom 6.4.2018). Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen. Das LSG hat durch in der mündlichen Verhandlung verkündeten Beschluss das persönliche Erscheinen des Klägers aufgehoben und die Berufung zurückgewiesen. Es könne offenbleiben, ob der Kläger prozessunfähig sei. Der Bestellung eines besonderen Vertreters habe es nicht bedurft, weil sein Begehren mangels Statthaftigkeit haltlos sei (Urteil vom 26.4.2018).

Der Kläger wendet sich mit seiner dagegen eingelegten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil und rügt Verfahrensmängel.

II. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG; dazu 2.), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet (dazu 1.).

1. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensmangel der nicht wirksamen Vertretung (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO) hinreichend.

2. Der zulässig gerügte Verfahrensfehler des LSG liegt auch vor. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den Kläger abgesehen hat. Dieser war in der mündlichen Verhandlung am 26.4.2018 nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO). Hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht.

Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).

Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht keinen Betreuer bestellt hat (vgl BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9; BSG Beschluss vom 28.8.2018 - B 8 SO 13/18 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 22.1.2019 - B 1 KR 32/18 S - juris RdNr 5). Bei gewichtigen Bedenken gegen die Prozessfähigkeit hat das Gericht von der Prozessunfähigkeit auszugehen, wenn sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende Beteiligte prozessfähig (§ 71 Abs 1 SGG) ist (vgl BSGE 91, 146 = SozR 4-1500 § 72 Nr 1, RdNr 4 mwN = juris RdNr 6). Dies gilt schließlich auch dann, wenn die (partielle) Prozessunfähigkeit des Beteiligten als ernsthafte Möglichkeit im Raum steht und das Gericht sich (noch) nicht die Überzeugung bilden kann, dass der Beteiligte prozessfähig ist, aber unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung des Verfahrens den Rechtsstreit fortsetzen will. Insoweit muss das Gericht dann den verfahrensrechtlichen Maßstab anlegen, der gilt, wenn der Beteiligte prozessunfähig ist. Würde in einem solchen Fall das Erfordernis einer Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 Abs 1 SGG keine Beachtung finden, wäre dies mit dem Regelungszweck der Norm unvereinbar, das rechtsstaatliche Gebot des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG; vgl dazu BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 16.8.2017 - 1 BvR 1584/17 - juris RdNr 3), rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) und ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) auch bei fehlender oder zweifelhafter Prozessfähigkeit zu gewährleisten.

Das LSG durfte nicht davon absehen, einen besonderen Vertreter zu bestellen, ohne zuvor festgestellt zu haben, dass der Kläger prozessfähig ist. Das LSG hat hingegen ausdrücklich offengelassen, ob der Kläger prozessunfähig ist. Das LSG hätte deshalb nur nach Bestellung eines besonderen Vertreters iS von § 72 Abs 1 SGG über den Rechtsstreit entscheiden dürfen.

Hiervon ist das LSG im Ergebnis auch ausgegangen. Zu Unrecht hat es jedoch angenommen, dass ein Ausnahmefall vorliegt, bei dem von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen werden kann. Von der Vertreterbestellung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (vgl BSGE 5, 176, 178 ff). Dies ist insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Beteiligte nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (vgl BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10). Gleiches gilt aber auch dann, wenn das Rechtsmittel unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann, weil es schlechterdings nicht statthaft ist (vgl BSG Beschluss vom 22.1.2019 - B 1 KR 32/18 S - juris RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 18.1.2017 - B 1 KR 1/17 S - juris RdNr 4).

Das LSG beruft sich zwar für seine Entscheidung auf die vorstehende höchstrichterliche Rspr. Es geht jedoch zu Unrecht davon aus, die Sache betreffe einen Fall des § 56a Satz 1 SGG(eingefügt durch Art 7 Nr 4 Gesetz zur Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze vom 19.10.2013 ≪BUK-Neuorganisationsgesetz - BUK-NOG≫, BGBl I 3836, mWv 25.10.2013) . Danach können Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden. Unter einer Verfahrenshandlung in diesem Sinne ist jede behördliche Maßnahme zu verstehen, die im Zusammenhang mit einem schon begonnenen und noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsverfahren steht und die der Vorbereitung einer regelnden Sachentscheidung dient (vgl Axer in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 56a SGG RdNr 14; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 56a Anm 1d bb; zu § 44a VwGO: BVerwG Urteil vom 22.9.2016 - 2 C 16/15 - juris RdNr 19). Die Regelung betrifft gerade nicht den Ausschluss von Rechtsbehelfen gegen die Sachentscheidung selbst. Sie dient der Vereinfachung und der Beschleunigung des sozialgerichtlichen Verfahrens. Sie entspricht § 44a VwGO. Ziel der Norm ist es zu verhindern, dass durch Rechtsbehelfe gegen Verfahrenshandlungen die Sachentscheidung der Behörde verzögert wird (vgl Begründung der Bundesregierung zu Art 7 Nr 4 BUK-NOG-Entwurf, BT-Drucks 17/12297 S 39 zu Nr 4). Dieser Grundsatz galt bereits vor Inkrafttreten des § 56a SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren (BSGE 56, 215, 219 = SozR 2200 § 368g Nr 11 S 14; BSG SozR 1500 § 144 Nr 39 S 69 f; vgl zum Ganzen Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 56a Anm 1c).

Der Kläger streitet um eine Sachentscheidung im Sinne einer weitergehenden ärztlichen Begutachtung. Er greift mit seinem Begehren auf Fortsetzung der Begutachtung nicht das Unterlassen einer behördlichen Verfahrenshandlung im Kontext einer Sachentscheidung an. Vielmehr erschöpft sich sein Klageziel in dem Begutachtungsbegehren, ohne dass er damit eine darüber hinausreichende Sachentscheidung der Beklagten herbeiführen will oder eine solche auch nur objektiv materiell-rechtlich damit verbunden ist.

3. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

4. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 13598019

NZS 2020, 686

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