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BGH Urteil vom 11.07.2003 - V ZR 233/01

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Leitsatz (amtlich)

a) Wird in der Berufungsschrift ein gegnerischer (einfacher) Streitgenosse als Berufungsbeklagter bezeichnet, der andere dagegen nicht, ist das Rechtsmittel gegenüber dem Nichtbezeichneten unzulässig, wenn Zweifel an seiner Inanspruchnahme als Rechtsmittelbeklagter verbleiben.

b) Bei der Prüfung, ob das Rechtsmittel auch gegen einen nicht als Berufungsbeklagten bezeichneten Streitgenossen eingelegt ist, hat das Berufungsgericht, wenn rechtlich beide Möglichkeiten in Frage kommen, nicht darauf abzustellen, welche aus der Sicht des Rechtsmittelklägers die zweckmäßigere ist.

c) Eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gerichts zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten schließt nicht das Gebot ein, die Interessen der nachlässigen Partei zu Lasten des Gegners zu wahren; im Zweifel ist derjenigen Auslegung einer prozessualen Erklärung der Vorzug zu geben, die den Belangen der Partei, der kein Normverstoß anzulasten ist, gerecht wird.

 

Normenkette

ZPO §§ 519, 518 Abs. 2 Nr. 2 a. F

 

Verfahrensgang

OLG Düsseldorf (Urteil vom 28.05.2001; Aktenzeichen 9 U 242/00)

LG Mönchengladbach

 

Tenor

Die Revision der Beklagten zu 1 gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des OLG Düsseldorf v. 28.5.2001 wird, soweit sie nicht Gegenstand des Beschlusses des Senats v. 21.11.2002 ist, zurückgewiesen.

Die Kosten der Revisionsinstanz trägt die Beklagte zu 1 zu 99 v. H. allein, zu 1 v. H. gesamtschuldnerisch mit dem Beklagten zu 2.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Klägerin hat von der Beklagten, der sie ein Hausgrundstück verkauft hatte, die Herausgabe von Inventar verlangt. Widerklagend hat die Beklagte die Klägerin und deren Ehemann (Drittwiderbeklagter) auf Grund Anfechtung wegen arglistiger Täuschung über die baurechtliche Genehmigung des Anwesens auf Rückgängigmachung des Kaufs und wegen Verschuldens bei Vertragsschluss auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Das LG hat die Klage abgewiesen und der Widerklage, soweit sie sich gegen die Klägerin gerichtet hat, bis auf einen Teilbetrag des Schadensersatzes stattgegeben. Die Klage gegen den Drittwiderbeklagten hat es abgewiesen. In der Berufungsschrift der Beklagten ist die Klägerin als "Klägerin, Widerbeklagte und Berufungsbeklagte", der Drittwiderbeklagte dagegen nur als "Widerbeklagter" bezeichnet. Im Berufungsrechtszug hat die Beklagte die gegen die Klägerin gerichtete Berufung zurückgenommen und das Rechtsmittel gegen den Drittwiderbeklagten weiterverfolgt. Das OLG hat die Berufung verworfen. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht geht unter Bezugnahme auf die Entscheidungen des BGH v. 26.9.1961 (BGH v. 26.9.1961 - V ZB 24/61, NJW 1961, 2347) und v. 19.3.1969 (BGH v. 19.3.1969 - VIII ZR 63/67, NJW 1969, 928 = LM ZPO § 518 Abs. 2 Ziff. 1, Nr. 4) von dem Grundsatz aus, dass ein Rechtsmittel sich gegen die angefochtene Entscheidung als solche richtet (§ 519 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, § 518 Abs. 2 Nr. 1 ZPO a. F.), diese mithin im Umfang der Beschwer des Rechtsmittelklägers angreift. Anderes gelte, wenn die Rechtsmittelschrift eine Beschränkung der Anfechtung erkennen lasse. Dies sei bei mehreren, als Rechtsmittelbeklagte in Frage kommenden, Streitgenossen der Fall, wenn in der Rechtsmittelschrift nur Einzelne von ihnen als Rechtsmittelbeklagte bezeichnet seien. Allerdings genüge es mit Rücksicht auf zum Teil bestehende Gerichtsgepflogenheiten, wenn der Rechtsmittelkläger nur den gegnerischen Streitgenossen, der in dem angefochtenen Urteil als Erster bezeichnet ist ("Spitzenreiter"), in die Rechtsmittelschrift aufnehme. Die Berufungsschrift der Beklagten, die die gegnerischen Streitgenossen vollständig anführe, aber nur einen von ihnen, die Klägerin, als Berufungsbeklagte bezeichne, lasse demgegenüber die Auslegung, auch der Drittwiderbeklagte sei Rechtsmittelgegner, nicht zu.

II.

Dies hält den Angriffen der Revision stand.

Sie meint, das Berufungsgericht habe der Entscheidung des BGH v. 21.6.1983 (BGH v. 21.6.1983 - VI ZR 245/81, MDR 1984, 134 = NJW 1984, 58 = LM ZPO § 518 Abs. 2 Ziff. 1, Nr. 8; vgl. auch BGH, Urt. v. 8.11.2001 - VIII ZR 65/01, MDR 2002, 287 = BGHReport 2002, 217 = NJW 2002, 831 = LM ZPO § 518 Abs. 2 Ziff. 2, Nr. 18 - passim) nicht Rechnung getragen, wonach sich "im Zweifel" die uneingeschränkt eingelegte Berufung gegen alle erfolgreichen Streitgenossen richtet, wenn diese in der Berufungsschrift aufgeführt, aber nur teilweise auch als Berufungsbeklagte bezeichnet sind (LS). Dies greift nicht durch. Allerdings gebieten die im Grundgesetz gewährleisteten Prozessgrundrechte, dass der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen nicht in einer von Sachgründen nicht gedeckten Weise durch Förmelei erschwert wird (BGH, Urt. v. 19.2.2002 - VI ZR 394/00, BGHReport 2002, 518 = NJW 2002, 1430). Mängel der Parteibezeichnung in Rechtsmittelschriften sind deshalb unbeachtlich, wenn sie in Anbetracht der jeweiligen Umstände keinen vernünftigen Zweifel an der Person des Rechtsmittelklägers oder des Rechtsmittelbeklagten offen lassen (BGH, Beschl. v. 19.9.2002 - V ZB 31/02, BGHReport 2002, 1112 = MDR 2003, 46). Dies ist auch die Auffassung des VI. Senats, die er in seiner der Entsch. v. 21.6.1983 folgenden Rechtsprechung wiederholt bestätigt hat (BGH, Beschl. v. 7.11.1995 - V ZB 12/95, MDR 2003, 46 = NJW 1996, 320 = LM ZPO § 518 Abs. 2 Ziff. 2, Nr. 14; v. 15.12.1998 - VI ZR 316/97, MDR 1999, 625 = NJW 1999, 1554 = LM ZPO § 518 Abs. 2 Ziff. 1, Nr. 17; BGH, Urt. v. 19.2.2002 - VI ZR 394/00, BGHReport 2002, 518 = NJW 2002, 1430). Danach können lediglich theoretische Zweifel, für die tatsächliche Anhaltspunkte nicht festgestellt sind, bei der Auslegung der Berufungsschrift nicht maßgeblich sein. Der Entsch. v. 21.6.1983 ist mithin, wie sich des Näheren aus ihrer Begründung, aber auch im Lichte der weiteren Rechtsprechung ergibt, nicht zu entnehmen, dass eine differente Bezeichnung der gegnerischen Streitgenossen, teils unter Beifügung einer Parteirolle im Rechtsmittelverfahren, teils ohne eine solche, stets nur einen theoretischen, mithin nicht maßgeblichen Zweifel an der Person des Rechtsmittelbeklagten begründen könne. Maßgeblich für die Auslegung der Rechtsmittelschrift sind alle dem Rechtsmittelgericht innerhalb der Rechtsmittelfrist (BGH, Beschl. v. 7.11.1995 - V ZB 12/95, MDR 2003, 46 = NJW 1996, 320 = LM ZPO § 518 Abs. 2 Ziff. 2, Nr. 14; BGH, Beschl. v. 19.9.2002 - V ZB 31/02, BGHReport 2002, 1112 = MDR 2003, 46) zugänglichen Umstände, neben der Rechtsmittelschrift selbst auch die dieser beizufügende (§ 519 Abs. 3 ZPO; § 518 Abs. 3 ZPO a. F.) Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils oder weiter vorhandene Unterlagen (BGH, Urt. v. 13.10.1998 - VI ZR 81/98, MDR 1999, 182 = NJW 1999, 291 = LM ZPO § 518 Abs. 2 Ziff. 2 Nr. 15). In dem am 21.6.1983 entschiedenen Fall war die Einteilung in zwei Beklagtengruppen auf die jeweils verschiedene anwaltliche Vertretung der gegnerischen Streitgenossen zurückzuführen gewesen, die Gesamtzahl der Rechtsmittelgegner wurde durch die Anzahl der der Berufungsschrift beigefügten Abschriften bestimmt; zudem lag bei dem zu beurteilenden zusammenhängenden Unfallgeschehen eine Aufspaltung der Rechtsmittelbeklagten eher fern.

Im Streitfall dagegen hatte das LG der gegen die Klägerin gerichteten Widerklage dem Grunde und, bis auf einen Teilbetrag von 28.000 DM (Erstattung von Grunderwerbsteuer wegen Verschuldens bei Vertragsschluss), auch der Höhe nach stattgegeben, beim Drittwiderbeklagten, der nicht Vertragspartei war, dagegen die Passivbefugnis verneint. Der Beschränkung des Rechtsmittels auf die abgewiesene Teilforderung gegen die Klägerin konnte ein eigenständiger, von einem Rechtsmittelverfahren gegen den Drittwiderbeklagten losgelöster Sinn nicht abgesprochen werden. Die Frage, welches Rechtsmittel, die Berufung allein gegen die Klägerin oder gegen diese und den Drittwiderbeklagten, auch unter Berücksichtigung der jeweiligen Erfolgschancen, das zweckmäßigere war, hatte bei der Auslegung der Rechtsmittelschrift zurückzutreten. Zu solchen Überlegungen ist vor Eingang der Rechtsmittelbegründungsschrift i. d. R. keine Grundlage gegeben. Vor allem aber steht die Richtung des Rechtsmittelangriffs nicht zur Disposition des Gerichts. Diesem ist es versagt, mittels Überlegungen zur Zweckmäßigkeit und Erfolgsaussicht der Angriffsrichtung die Disposition der Parteien durch eine eigene zu ersetzen. Der Umstand, dass die Beklagte nachträglich die Berufung gegen die Klägerin zurückgenommen hat, ist mithin nicht dafür signifikant, dass das Berufungsgericht die möglichen Auslegungsquellen nicht erschöpft hätte. Abweichend von dem, der Entsch. v. 21.6.1983 zu Grunde liegenden Sachverhalt standen dem Berufungsgericht hier keine weiteren Auslegungsmittel zur Verfügung.

Die ernstlichen Zweifel an der Inanspruchnahme des Drittwiderbeklagten als Berufungsbeklagten, die die wenige Tage vor Ablauf der Berufungsfrist eingegangene Rechtsmittelschrift hinterließ, mussten zur Verwerfung des Rechtsmittels führen. Dies geboten einmal die Belange des Drittwiderbeklagten, der als erstinstanzlich siegreich gebliebener Streitgenosse ein schutzwürdiges Interesse daran hatte zu wissen, ob diese Position Gegenstand eines Rechtsmittelangriffs sein würde oder bereits Bestand hatte (BGH, Beschl. v. 19.9.2002 - V ZB 31/02, BGHReport 2002, 1112 = MDR 2003, 46; BGH, Beschl. v. 15.7.1999 - IX ZB 45/99, MDR 1999, 1218 = NJW 1999, 3124 = LM ZPO § 518 Abs. 2 Ziff. 2 Nr. 17). Die aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitende Forderung an die Gerichte zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation (BVerfG, Beschl. v. 9.8.1991 - 1 BvR 630/91, NJW 1991, 3140 m. w. N. zur Rspr. d. BVerfG) schließt keine Anleitung in sich, die Interessen der nachlässigen Partei zu Lasten des Gegners zu wahren. Im Zweifel ist vielmehr derjenigen Auslegung einer prozessualen Erklärung der Vorzug zu geben, die den Belangen des Zustellungsadressaten (bei der Berufung: § 521 ZPO, § 519a ZPO a. F.), dem kein Normverstoß anzulasten ist, gerecht wird. Zum anderen gebieten auch die wohlverstandenen Interessen des Rechtsmittelklägers Zurückhaltung. Würde das Gericht bei nicht behebbaren Zweifeln über die Person des Rechtsmittelgegners eine von mehreren gleichermaßen in Frage kommenden Möglichkeiten wählen, wäre es zu Recht der Rüge ausgesetzt, der sachlich ohne Erfolg gebliebene Rechtsmittelangriff sei nicht gewollt gewesen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 969387

BB 2003, 1866

NJW 2003, 3203

BGHR 2003, 1154

FamRZ 2003, 1652

ZAP 2003, 1103

ZfIR 2003, 928

MDR 2003, 1434

KammerForum 2003, 419

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