Das OLG Celle führt hier mit bemerkenswerter Klarheit noch einmal die Grundsätze aus, die für den Anscheinsbeweis bei behaupteten Spurwechsel gelten. Der Auffahrende muss ggf. beweisen, dass ein Spurwechsel in unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall stattgefunden hat. Gelingt ihm dieser Beweis nicht, bleibt es bei dem gegen ihn sprechenden Anschein. Und er muss sich ein Verschulden an dem Unfall zurechnen lassen.
Kritisch sind hier allein die Ausführungen zur – unterlassenen – Anhörung des Zeugen T zu sehen. Auf dessen Aussage und die Darstellung des Klägers selbst hatte das LG Hannover seine Überzeugung gestützt, dass dem Auffahrunfall tatsächlich ein relevanter Spurwechsel vorausgegangen war, der gegen den Kläger streitende Anschein also erschüttert war. Das OLG Celle mochte dem nicht folgen. Der Zeuge habe doch gesagt, dass er den eigentlichen Unfallhergang nicht beobachtet habe. Also lasse sich der Schluss des LG, dass durch seine Angabe die Darstellung des Klägers bestätigt worden sei, nicht rechtfertigen. Ohne erneute Anhörung des Zeugen dreht der Senat das Urteil um. Kein Spurwechsel erwiesen, also Anschein für einen normalen Auffahrunfall, also ist die Hauptverantwortung bei dem Kläger selbst zu suchen.
Das Ergebnis muss zu denken geben. Ein Gericht, das den Kläger und den Zeugen persönlich angehört hat und aufgrund dieses persönlichen Eindrucks sagt, dass es die Darstellung des Klägers für bestätigt hält, muss sich nun darüber belehren lassen, dass seine Argumentation unschlüssig ist, und zwar allein aufgrund des protokollierten Inhalts der Zeugenaussage. Das kann eigentlich nicht richtig sein, jedenfalls müssen sich dem Praktiker, der die Unvollkommenheit protokollierter Zeugenaussagen kennt, erhebliche Zweifel auftun. Hat der Zeuge eventuell doch etwas über den zeitlichen Zusammenhang zwischen Spurwechsel und Auffahrunfall gesagt, was sich nicht aus dem Protokoll ergibt? Was soll dem erstinstanzlichen Richter sonst Veranlassung gegeben haben, zu diesem unsinnigen Urteil zu kommen? Und ist die Sache so klar, dass man sie ohne erneute Anhörung entscheiden kann?
Das OLG zitierte den BGH richtig. Die abweichende Würdigung einer Zeugenaussage setzt grundsätzlich die erneute Anhörung des Zeugen voraus (BGH, Beschl. v. 18.4.2013 – V ZR 231/12, juris Rdn. 9 ff.; BGH, Beschl. v. 10.11.2010 - IV ZR 122/09, juris Rdn. 6; BGH, Beschl. v. 7.11.2028 – IV ZR 189/17, juris Rdn. 8). Eine Ausnahme gilt nur für den Fall, dass keine Zweifel über die Vollständigkeit und Richtigkeit der protokollierten Aussage bestehen (BGH, Beschl. v. 18.4.2013 – V ZR 231/12, juris Rdn. 10). Woraus sich ergibt, dass die Aussage vollständig protokolliert wurde, bleibt offen. Und warum die Zweifel nicht auch durch das sonst unverständliche Urteil des erstinstanzlichen Gerichts begründet werden können, erschließt sich nicht.
RA Dr. Hans-Joseph Scholten, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a.D., Gladbeck
zfs 2/2025, S. 72 - 75