Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. Versorgung mit einem Husk-E. Behinderungsausgleich. zumutbare und angemessene Art und Weise der Erschließung des Nahbereichs darf nicht zu eng gefasst werden. volle Wirkung des Wunsch- und Wahlrechts. eigenverantwortliche Gestaltung der Lebensumstände. Förderung des Grundbedürfnisses nach Selbstbestimmung. Verhinderung des Zwangs zur absoluten Passivität

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Anspruch auf Versorgung mit einem Husk-E: Ein querschnittsgelähmter Versicherter, der mit einem Aktivrollstuhl nicht mehr ausreichend versorgt ist und Elektrounterstützung benötigt, kann nicht gegen seinen Willen auf einen Elektrorollstuhl verwiesen werden, der ihn zur Passivität bei der Erschließung des Nahbereichs zwingt.

2. Bei der Prüfung des Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich gemäß § 33 Abs 1 S 1 Alt 3 SGB V ist bei grundrechtsorientierter Auslegung unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX, insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, und dem Recht auf persönliche Mobilität nach der UN-Behindertenrechtskonvention (juris: UNBehRÜbk) zu berücksichtigen, dass das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden darf in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich zumutbar und in angemessener Weise erschließen. Dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen ist volle Wirkung zu verschaffen. Die Leistung muss dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lassen und die Selbstbestimmung fördern.

3. Dem Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und der Führung eines selbstbestimmten Lebens dient es, einen behinderten Menschen so lange wie möglich seinen Wünschen entsprechend nicht mit einem von ihm nicht gewünschten Elektrorollstuhl zu versorgen, der ihn zur absoluten Passivität zwingt.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 12. Juli 2021 und der Bescheid der Beklagten vom 15. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2020 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einem Rollstuhlzuggerät „Husk-E“ zu versorgen.

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Übernahme der Kosten für das Rollstuhlzuggerät „Husk- E“.

Der am J. 1964 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.

Bei ihm bestehen eine Querschnittslähmung ab Höhe TH8, eine Epicondylitis humeri ulnaris, ein Impingementsyndrom der Schulter und Supraspinatussyndrom rechts, ein lumbales Facettensyndrom mit neuroforamer Enge L4/L5, im November 2018 trat eine Pneumonie mit kardialer Dekompensation mit beidseitigen Pleuraergüssen auf, es wurde eine Linksherzdekompensation diagnostiziert. Ferner bestehen eine Blasenentleerungsstörung, Neigung zu Opstipation und ein Zustand nach Nierenkarzinom links Oktober 2021. Der Kläger ist auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen und ua mit einem Aktivrollstuhl und einem Handybike versorgt.

Die behandelnden Orthopäden Dres K. / L. ua verordneten dem Kläger am 31. Juli 2019 ein Rollstuhlzuggerät Husk-E mit E-Unterstützung nach Maß und Erprobung (Produktgruppe 18.99.04.0) wegen Supraspinatussyndrom rechts (M75.1), Impingementsyndrom der Schulter (M75.4). Am 8. August 2019 beantragte er bei der Beklagten unter Vorlage der Verordnung, eines Kostenvoranschlags der Firma M. GmbH Sanitätshaus und Rehatechnik, N., vom 8. August 2019 und eines Erprobungsberichtes die Übernahme der Kosten für ein Rollstuhlzuggerät „Husk- E“ über insgesamt 8.630,80 Euro.

Mit Bescheid vom 15. August 2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Mit Schreiben vom 3. September 2019 erhob der Kläger Widerspruch und legte Stellungnahmen seiner Physiotherapeutin O. vom 7. Mai 2019 sowie seines Hausarztes, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr P., vom 26. September 2019 vor.

Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachen (MDK) ein, der in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 2. Januar 2020 zu dem Ergebnis kam, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nicht erfüllt seien. Er führte zusammenfassend aus, dass die Verwendung eines Rollstuhlbikes bzw eines elektronisch unterstützten Rollstuhlbikes wünschenswert, hilfreich und sinnvoll wäre, die Kriterien für eine zwingende medizinische Indikation, die eine Leistungspflicht der Solidargemeinschaft durch die Gesetzliche Krankenversicherung bedingten, jedoch nicht erfüllt seien. Die Basismobilität wäre stattdessen mit einem elektronischen Rollstuhlantrieb (zB E-Fix) oder einem Elektrorollstuhl grundsätzlich sichergestellt. Da der Kläger bereits mit einem mechanischen Handbike versorgt gewesen sei, sei es völlig nachvollziehbar, dass ein Umstieg auf eine nur noch passive Mobilitätsermöglichung für den Patienten eine massive persönliche Zumutung bedeute, auch...

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