Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattung von Kosten im Vorverfahren. Erfolg des Widerspruchs. formale Betrachtungsweise. Ausnahme bei Nachholung von Mitwirkungspflichten im Widerspruchsverfahren. Schweigen im Anhörungsverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

Das Schweigen eines SGB II-Leistungsbeziehers im Anhörungsverfahren nach § 24 Abs 1 SGB X kann nicht rechtsmissbräuchlich sein, weil ihn insoweit keine Mitwirkungsobliegenheiten treffen. Daher begründet es auch keinen Ausnahmefall, in dem nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 24.9.2020 - B 9 SB 4/19 R = SozR 4-1300 § 63 Nr 31 RdNr 15 ff mwN) von der grundsätzlich gebotenen formalen Betrachtungsweise für den Erfolg eines Widerspruchs iS von § 63 Abs 1 SGB X abzuweichen ist. Insbesondere kann ein Schweigen im Anhörungsverfahren nicht mit einer unzureichenden Mitwirkung im Antragsverfahren gleichgesetzt werden.

 

Orientierungssatz

1. Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit ein Widerspruch erfolgreich war, ist ein Vergleich des mit dem Widerspruch Begehrten mit dem Inhalt der das Vorverfahren abschließenden Sachentscheidung (formale Betrachtungsweise, vgl BSG vom 12.6.2013 - B 14 AS 68/12 R = SozR 4-1300 § 63 Nr 20 RdNr 21).

2. Nach der Rechtsprechung des BSG kann eine Abweichung von dem vorgenannten Grundsatz geboten sein, wenn der Widerspruchsführer eine ihm schon im Verwaltungsverfahren obliegende Mitwirkungshandlung erst im Widerspruchsverfahren nachholt (vgl ua BSG vom 13.10.2010 - B 6 KA 29/09 R = SozR 4-1300 § 63 Nr 13 RdNr 16).

 

Normenkette

SGB X § 24 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1-2, § 20; SGB I § 60 Abs. 1 S. 1; SGG § 54 Abs. 2, §§ 78, 85 Abs. 1

 

Tenor

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Halle vom 21. Januar 2020 und der Bescheid des Beklagten vom 11. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2018 werden aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Widerspruchsverfahrens W 1298/18 zu erstatten.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten im Vorverfahren nach § 63 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X).

Der 1987 geborene Kläger und Berufungskläger (im Weiteren: Kläger) war ab dem 1. April 2014 bei der H.  GmbH beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde durch den Arbeitgeber am 13. Februar 2017 außerordentlich gekündigt.

Die Bundesagentur für Arbeit - Agentur für Arbeit Halle - stellte mit Bescheid vom 3. März 2017 nach Einholung einer Arbeitsbescheinigung des Arbeitgebers den Eintritt einer Sperrzeit vom 14. Februar 2017 bis zum 8. Mai 2017 fest. Die Kündigung sei erfolgt, da der Kläger seinen Urlaub eigenmächtig und ungenehmigt verlängert habe. Nachdem er bereits im Februar 2015 eine Mahnung erhalten habe, habe er davon ausgehen müssen, dass sein Verhalten zu einer Kündigung führen und er dadurch arbeitslos werden würde. Mit weiterem Bescheid vom gleichen Tag wurde dem Kläger Arbeitslosengeld I (Alg I) für die Zeit vom 9. Mai 2017 bis zum 28. Februar 2018 bewilligt.

Auf einen Antrag des Klägers vom 13. März 2017 bewilligte der Beklagte und Berufungsbeklagte (im Weiteren: Beklagter) mit Bescheid vom 29. März 2017 u.a. für den Zeitraum vom 1. März 2017 bis zum 31. Mai 2017 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) und stellte mit weiterem Bescheid vom gleichen Tag eine Minderung des Alg II in Höhe von 30% des maßgeblichen Regelbedarfes wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II für den benannten Zeitraum fest. Die Agentur für Arbeit Halle habe den Eintritt einer Sperrzeit nach § 159 bzw. § 161 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III) festgelegt. Hieran sei der Beklagte gebunden, eine eigene Prüfungskompetenz bestehe nicht. Die Bescheide wurden bestandskräftig.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 22. Juni 2017 hob der Beklagte die Entscheidung vom 29. März 2017 für die Zeit ab dem 1. Mai 2017 aufgrund des Bezuges von bedarfsdeckendem Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit auf.

Mit Schreiben vom 7. November 2017 hörte der Beklagte den Kläger zu einer beabsichtigten Entscheidung über den Eintritt einer Ersatzpflicht nach § 34 SGB II an: Indem er eigenmächtig und unerlaubt seinen Urlaub verlängert habe, habe er sich arbeitsvertragswidrig verhalten und dadurch die Beschäftigungslosigkeit herbeigeführt. Aufgrund des Einkommensverlustes und der festgesetzten Sperrzeit durch die Agentur für Arbeit hätten für den Zeitraum vom 1. März bis zum 30. April 2017 Leistungen nach dem SGB II erbracht und Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung entrichtet werden müssen. Soweit Hilfebedürftigkeit - wie hier - vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt worden sei, sei der Leistungsempfänger zum Ersatz der insgesamt ...

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