Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten. fristlose verhaltensbedingte Kündigung des Ausbildungsverhältnisses. psychisch belastend empfundene Ausbildungssituation. Kausalzusammenhang zwischen dem sozialwidrigen Verhalten und dem Erhalt von SGB 2-Leistungen. sozialrechtliche Theorie der wesentlichen Bedingung. Härtefallregelung. Auslegung. Verhältnismäßigkeit. Ziele und Grundsätze des SGB 2. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. hinreichende Konkretisierung eines Überprüfungsantrags. Bindungswirkung eines Grundlagenbescheids

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten (§ 34 SGB II) erfordert einen Kausalzusammenhang zwischen dem sozialwidrigen Verhalten und dem deswegen erfolgten Bezug von SGB II-Leistungen (hier: zwischen einem Ausbildungsabbruch und dem ca 3,5 bis 7,5 Jahre später erfolgenden SGB II-Leistungsbezug wegen Arbeitslosigkeit). Maßstab hierfür ist die sozialrechtliche Theorie der wesentlichen Bedingung.

2. Auch bei der Auslegung der Härtefallvorschrift nach § 34 Abs 1 S 6 SGB II ist zu berücksichtigen, dass es sich bei § 34 SGB II um einen engen und deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand handelt und nicht jedes vorwerfbare Verhalten, das eine Hilfebedürftigkeit oder Leistungserbringung nach dem SGB II verursacht, zur Ersatzpflicht führt. Erfasst wird nur ein Verhalten mit spezifischem Bezug, also einem inneren Zusammenhang zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw Leistungserbringung.

3. Es widerspricht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot), dem Grundsatz des Forderns und Förderns (§§ 2, 14 SGB II), § 1 Abs 2 S 4 Nr 6 SGB II aF (seit 1.1.2023: § 1 Abs 2 S 4 Nr 5 SGB II) und § 1 Abs 1 S 2 SGB I, wenn eine typische Jugendsünde (hier: Ausbildungsabbruch eines damals 20-jährigen Heranwachsenden in einer von ihm als psychisch belastend empfundenen Ausbildungssituation) zu Ersatzansprüchen in Höhe von mehr als 30.000,00 bzw 51.000,00 Euro gegenüber einem (zuletzt) erst 28-jährigen ungelernten Langzeitarbeitslosen führen.

 

Orientierungssatz

1. Zur hinreichenden Konkretisierung eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB 10.

2. Zur Bindungswirkung einer bestandskräftigen isolierten Feststellung zur Sozialwidrigkeit des Verhaltens (Grundlagenbescheid).

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. Juni 2022 sowie der Bescheid des Beklagten vom 25. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2021 werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, die Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019 zurückzunehmen.

Der Beklagte erstattet dem Kläger ein Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt vom Beklagten die Rücknahme mehrerer Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) über mehr als 30.000,00 Euro (für die Zeit von Dezember 2015 bis September 2019) im Wege des sog. Zugunstenverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X)

Der im Juni 1991 geborene Kläger nahm nach Beendigung seiner Schulausbildung eine Berufsausbildung zum Elektroniker für Automatisierungstechnik auf. Die Berufsausbildung begann laut dem vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten Lebenslauf im September 2009, laut seinem an den Beklagten gerichteten Schreiben vom 17. Juni 2013 dagegen erst im September 2010 (Bl. 80 Verwaltungsakte [Papierakte] - VA). Reguläres Ausbildungsende wäre voraussichtlich März 2013 gewesen (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 17. Oktober 2022). Am 16. März 2012 kündigte der Ausbildungsbetrieb fristlos das Ausbildungsverhältnis mit der Begründung, dass der Kläger sich am 10. Februar 2012 unerlaubt von seinem Arbeitsplatz entfernt, wiederholt gegen seine Mitteilungspflicht nach § 25 der Arbeitsordnung verstoßen und seit dem 1. März 2012 unentschuldigt gefehlt habe (Kündigungsschreiben vom 16. März 2012, Bl. 89 der Gerichtsakte - GA). Der Kläger schilderte die Begleitumstände der Kündigung abweichend und verwies u.a. auf eine damals wegen Mobbing am Arbeitsplatz attestierte Arbeitsunfähigkeit sowie auf depressive Schübe (vgl. im Einzelnen: Schreiben des Klägers vom 17. Juni 2013, Bl. 80, 81 VA).

In der Folgezeit bezog der Kläger von der Bundesagentur für Arbeit (BA) Arbeitslosengeld I (Alg I), wobei der Alg I-Anspruch in den ersten 12 Wochen sperrzeitbedingt ruhte. Nach Auslaufen des Alg I-Anspruchs gewährte der Beklagte dem Kläger ab dem 1. März 2013 laufende SGB II-Leistungen, auch für den im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Zeitraum Dezember 2015 bis September 2019. Über weite Zeiträume waren die SGB II-Leistungen sanktionsbedingt gemindert.

Mit Bescheid vom 27. Mai 2013 in Gestalt ...

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