Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BGH zu generationenüberspringenden Pflichtteilsrechten und zugleich eine Anmerkung zum Urteil des BGH vom 27. Juni 2012 – IV ZR 293/10

Einführung

Pflichtteilsrechte im Sinne des § 2303 BGB können nicht nur in der Generation der unmittelbaren Abkömmlinge des Erblassers (des Erblassers eigene Kinder), sondern auch bei entfernter verwandten Abkömmlingen, wie zum Beispiel den Enkeln des Erblassers, auftreten. Dieser Beitrag untersucht die systematischen Voraussetzungen für das Entstehen eines Pflichtteilsrechts in der Enkelgeneration und beleuchtet dabei die jüngere Rechtsprechung des BGH zu dieser Fragestellung kritisch.

I. Die Entscheidungen des BGH vom 13.4.2011 und vom 27.6.2012

Der vierte Senat des BGH hatte 2011 und 2012 jeweils einen Fall zu entscheiden, dessen maßgebliche Fragestellung darin bestand, ob ein Pflichtteilsrecht in der Enkelgeneration besteht, obwohl die Eltern der Enkel, also die Kinder der Erblasser, noch leben.

In der Entscheidung vom 13.4.2011[1] hat der BGH richtigerweise festgestellt, dass die Enterbung und Pflichtteilsentziehung eines unmittelbaren Abkömmlings dazu führt, dass dessen unmittelbare Nachkommen, also die Enkelkinder des Erblassers, pflichtteilsberechtigt werden.

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die Erblasserin ihren Sohn enterbt und ihm wirksam den Pflichtteil entzogen. Statt ihres Sohnes hat sie einen ihrer beiden Enkel zum Erben eingesetzt. Der andere Enkel (Kind des enterbten Sohnes) machte im Wege der Stufenklage gegen seinen Bruder den Pflichtteil geltend.

In dem am 27.6.2012[2] entschiedenen Fall hat der BGH dann ausgeführt, dass Enkelkinder des Erblassers pflichtteilsberechtigt sind, wenn der unmittelbare Nachkomme des Erblassers (also der Elternteil der Enkel) auf das Erbe verzichtet und später dennoch zum Erben eingesetzt wird.

Das Ehepaar der Großelterngeneration hatte ein notarielles gemeinschaftliches Testament errichtet, in dem sich die Ehegatten zu alleinigen Erben einsetzten und als Schlusserben ihre Enkelkinder benannten. Dem Überlebenden wurde das Recht vorbehalten, die Schlusserbeneinsetzung zu ändern. Die einzige Tochter der Großeltern, die Beklagte und Mutter der Klägerin, verzichtete zum Zeitpunkt der Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments der Großeltern wirksam, aber (ausdrücklich) allein für ihre Person und nicht für ihre Abkömmlinge, auf ihr gesetzliches Erb- und Pflichtteilsrecht. Nach dem Tod der Großmutter machte der Großvater von seinem Recht Gebrauch, das gemeinschaftliche Testament zu ändern und setzte seine Tochter, die Beklagte, als Alleinerbin ein. Die Enkelin (Klägerin) machte den Pflichtteil geltend.

II. Systematische Prämissen des Pflichtteilsrechts für Enkel-Pflichtteile

Anhand des am 13.4.2011 entschiedenen Falles lassen sich systematische Prämissen des Pflichtteilsrechts aufzeigen, die in der letztgenannten Entscheidung nicht vollständig berücksichtigt wurden:

1. Dem deutschen Erbrecht allgemein[3] und dem gesetzlichen Erbrecht im Besonderen liegt das Prinzip zugrunde, dass in der Linie der Deszendenten die ältere Generation grundsätzlich die jüngere ausschließt. So wäre auch in der Entscheidung vom 13.4.2011 eine Erbschaft (oder Pflichtteilsberechtigung) des Klägers nicht infrage gekommen, wenn dessen Vater geerbt hätte.

2. Ein Pflichtteilsrecht entsteht nur dann, wenn mit dem Erblasser besonders nah verbundene, vom Gesetz bestimmte und zur gesetzlichen Erbfolge berufene Personen nicht Erbe werden, was zumeist dann der Fall ist, wenn sie enterbt werden (§ 2303 BGB).[4] So verhält es sich auch in dem am 13.4.2011 entschiedenen Fall: Hier wären die Enkel (zu denen auch der enterbte Kläger gehörte) nach Enterbung und Pflichtteilsentziehung des Vaters gesetzliche Erben nach dem Großvater geworden. Aufgrund der Enterbung des Klägers wurde aus dem gesetzlichen Erbrecht ein Pflichtteilsrecht.

3. Eine dritte Prämisse des Pflichtteilsrechts ist, dass das Pflichtteilsrecht der älteren Generation von Deszendenten das Pflichtteilsrecht der jüngeren Deszendentengeneration ausschließt.[5] Dementsprechend bejaht der BGH in dem am 13.4.2011 entschiedenen Fall zu Recht das Bestehen eines Pflichtteilsrechts, denn es besteht kein Pflichtteilsrecht in der ersten Deszendentengeneration. Der BGH betrachtet das Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung richtigerweise als redaktionelles Versehen, da in allen vergleichbaren Konstellationen (Ausschlagung etc.), in denen Erb- und Pflichtteilsrecht in der ersten Generation wegfallen, das Pflichtteilsrecht in der Enkelgeneration von Gesetzes wegen entsteht.

4. Aus der Gesamtschau dieser Prinzipien[6] ergibt sich jedoch noch eine weitere Prämisse, die sich wie folgt herleiten lässt: Wenn ein Pflichtteilsrecht nur dann entsteht, wenn ein als gesetzlicher Erbe Berufener nicht Erbe wird (2.) und die jüngere Deszendentengeneration in der gesetzlichen Erbfolge von der älteren Deszendentengeneration ausgeschlossen wird (1.), kann die jünge...

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