BGB § 138 Abs. 1, Abs. 2 § 166 Abs. 1

Leitsatz

Ist der Schenker aufgrund einer objektiven oder subjektiven Zwangslage zur Schenkung veranlasst worden, kann der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht nur solche Personen treffen, die diese Zwangslage herbeigeführt haben. Vielmehr kann es ausreichen, wenn der Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst zu Nutze macht. (Rn 20)

BGH, Urt. v. 15.11.2022 – X ZR 40/20 (OLG Frankfurt, LG Gießen)

1 Sachverhalt

Tatbestand: [1] Der im Jahr 1922 geborene Kläger schenkte den beiden Beklagten – seinen Enkeln – mit notariell beurkundetem Vertrag vom 13.6.2017 Wertpapiere im Wert von jeweils 219.000 EUR. Zu einer Übertragung der Wertpapiere kam es in der Folgezeit nicht.

[2] Ebenfalls am 13.6.2017 übertrug der Kläger seinem Sohn – dem Vater der Beklagten – das Eigentum an einem Mehrfamilienhaus in B.

[3] Mit Schreiben vom 15.8.2017 erklärte der Kläger gegenüber den Beklagten die Anfechtung des mit ihnen abgeschlossenen Schenkungsvertrags aus allen rechtlich vorgesehenen Gründen.

[4] Das Landgericht hat die auf Feststellung der Nichtigkeit des Schenkungsvertrags mit den Beklagten gerichtete Klage abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung hat das Berufungsgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.

[5] Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die Beklagten treten dem Rechtsmittel entgegen.

2 Aus den Gründen

Gründe: [6] Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

[7] I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

[8] Der Schenkungsvertrag sei nicht aufgrund der Anfechtung nichtig. Der Kläger zeige nicht auf, dass und welches Übel ihm in Aussicht gestellt worden sei, um ihn zu einer Schenkung zu veranlassen. Das Verhalten des Vaters der Beklagten sei insofern ohne Relevanz.

[9] Der Schenkungsvertrag sei auch nicht wegen der Ausnutzung einer erheblichen Willensschwäche des Klägers sittenwidrig. Die Rechtsordnung billige jedem geschäftsfähigen Menschen die Entscheidung zu, Teile seines Vermögens zu verschenken. Dies gelte auch dann, wenn der Begünstigte derartige Zuwendungen an sich wünsche. Für die Frage, ob ein solches Geschäft im Einzelfall dennoch dem Unwerturteil des § 138 Abs. 1 BGB unterfalle, seien in erster Linie die Motive des Begünstigten bzw. die von ihm verfolgten Zwecke und die Art und Weise seines Vorgehens maßgeblich sowie etwa die Persönlichkeitsstruktur des Zuwendenden, soweit dieser nicht oder kaum in der Lage sei, sich bedrängenden Wünschen der Zuwendungsempfänger zu entziehen. Hierfür seien im Streitfall keine belastbaren Anhaltspunkte vorgetragen.

[10] II. Dies hält der revisionsrechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand.

[11] 1. Das Berufungsgericht hat allerdings zu Recht die Voraussetzungen für eine Anfechtung des Schenkungsvertrags verneint.

[12] a) Dem Vortrag des Klägers ist nicht zu entnehmen, dass die Beklagten oder deren Vater den Abschluss der Schenkungsverträge durch Drohung mit einem empfindlichen Übel im Sinne von § 123 Abs. 1 BGB veranlasst haben.

[13] b) Die Voraussetzungen eines Inhaltsirrtums im Sinne von § 119 Abs. 1 BGB sind ebenfalls nicht erfüllt.

[14] Für einen Inhaltsirrtum in diesem Sinne reicht es nicht aus, wenn eine Willenserklärung abgegeben wird, deren Inhalt der Erklärende nicht kennt oder nicht versteht. Erforderlich ist vielmehr, dass der Erklärende eine bestimmte, vom tatsächlichen Inhalt abweichende Vorstellung hatte (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 30.10.2013 – V ZB 9/13, NJW 2014, 1242 Rn 8; Urt. v. 27.10.1994 – IX ZR 168/93, NJW 1995, 190, juris Rn 19; BAG, NJW 1971, 639, juris Rn 22).

[15] Letzteres ist dem Klagevortrag nicht zu entnehmen.

[16] 2. Eine Nichtigkeit des Schenkungsvertrags wegen Sittenwidrigkeit lässt sich mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung hingegen nicht verneinen.

[17] a) Ein Rechtsgeschäft ist sittenwidrig im Sinne von § 138 Abs. 1 BGB, wenn es nach seinem Inhalt oder Gesamtcharakter gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt.

[18] Verstößt das Rechtsgeschäft nicht bereits seinem Inhalt nach gegen die grundlegenden Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung, muss ein persönliches Verhalten des Handelnden hinzukommen, das diesem zum Vorwurf gemacht werden kann (BGH, Urt. v. 16.7.2019 – II ZR 426/17, NJW 2019, 3635 Rn 24). Hierbei ist der aus der Zusammenfassung von Inhalt, Zweck und Beweggrund zu entnehmende Gesamtcharakter des Verhaltens maßgeblich (BGH, Urt. v. 4.6.2013 – VI ZR 288/12, NJW-RR 2013, 1448 Rn 14). Je nach Einzelfall kann sich die Sittenwidrigkeit bereits aus einem dieser Elemente oder aus einer Kombination mehrerer Elemente und deren Summenwirkung ergeben (BGH, Urt. v. 2.2.2012 – III ZR 60/11, MDR 2012, 333 Rn 20; Urt. v. 26.4.2022 – X ZR 3/20, NJW 2022, 3147 Rn 32).

[19] Die Sittenwidrigkeit eines unentgeltlichen Geschäfts gemäß § 138 Abs. 1 BGB kann sich nicht nur aus Motiven des ...

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