Leitsatz (redaktionell)
Voraussetzungen für die fiktive Nachversicherung nach G131 § 72 Abs 1:
Bei Anwendung dieser Bestimmung ist die dem gesamten Nachversicherungsrecht eigentümliche Kausalität zu beachten, dh es kommt auch darauf an, ob Versicherungspflicht bestanden hätte.
Orientierungssatz
Zur Frage der Nachversicherung eines Referendars (G 131 § 72), der von November 1920 bis März 1924 im preußischen Justizdienst tätig war.
Normenkette
G131 § 72 Fassung: 1965-10-13; RVO § 1232 Fassung: 1965-06-09; AVG § 9 Fassung: 1965-06-09; G131 § 72 Abs. 1
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. Dezember 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der im November 1898 geborene Kläger besuchte die Schule bis zur Reifeprüfung und studierte anschließend von April 1917 bis November 1920 - unterbrochen durch Kriegsdienst von Mai 1917 bis Januar 1919 - Rechtswissenschaft. Von November 1920 bis März 1924 war er Referendar im preußischen Justizdienst. Während dieser Zeit war er vom 25. Mai bis 24. Juni 1923 als Hilfsamtsanwalt tätig. Von März 1924 bis 1945 (Kriegsende) war er im Justizdienst als Gerichtsassessor, Landgerichtsrat und (seit 1937) als Landgerichtsdirektor beschäftigt. Von 1948 bis 1950 war er beauftragter Richter in Niedersachsen. Seit Jahren ist er als Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht Celle zugelassen.
Das Landesverwaltungsamt B als zuständige Versorgungsdienststelle des Klägers bescheinigte ihm im September 1964, daß er vom 15. November 1920 bis 6. März 1924 als Beamter (Referendar) ohne Entgelt und daran anschließend bis zum 8. Mai 1945 als Beamter mit Entgelt im öffentlichen Dienst beschäftigt gewesen sei.
Die Beklagte gewährte dem Kläger ab Mai 1959 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und ab November 1963 Altersruhegeld Bescheide vom 9. November 1964). Mit der Klage gegen diese Bescheide begehrte der Kläger, ihm seine Referendarzeit als weitere Nachversicherungszeit sowie Zeiten seiner Schulausbildung und seines Studiums als Ausfallzeiten anzurechnen. Die Klage richtete sich auch gegen die während des anhängigen Verfahrens ergangenen Bescheide der Beklagten vom 14. September 1965, 28. September 1965 und 21. Januar 1966, durch welche die Erwerbsunfähigkeitsrente und das Altersruhegeld neu berechnet wurden. Die Beklagte hat dabei für die Rentenbezugszeit ab Juli 1965 die Schul- und Hochschulzeit des Klägers nach 1913, abgesehen vom April 1917, als Ausfallzeit berücksichtigt.
Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte die Beklagte, für die Rentenbezugszeit seit dem 1. Juli 1965 auch noch den Monat April 1917 als Ausfallzeit auf das Altersruhegeld anzurechnen; im übrigen wies es die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurück. Nach der Ansicht des LSG war der Kläger während seiner Referendarzeit versicherungsfrei, weil er für seinen späteren Beruf ausgebildet und nur vorläufig im Staatsdienst beschäftigt wurde (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 des Versicherungsgesetzes für Angestellte -VGfA). Versicherungsfreiheit auf Grund einer Anwartschaft auf Ruhegeld und Hinterbliebenenversorgung nach § 9 Abs. 3 VGfA habe nicht bestanden, weil die Beschäftigung des Klägers keine solche gewesen sei, die im Sinne der Richtlinien des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 24. Juli 1923 (RGBl 1923 S. 542) "regelmäßig nach einiger Zeit in eine feste mit Ruhegeldberechtigung und Hinterbliebenenversorgung ausgestattete Anstellung übergeht". Eine Entscheidung nach § 9 Abs. 3 VGfA über die Versicherungsfreiheit der Referendare in Preußen sei nicht ergangen. Nach Nr. 7 Abs. 2 Buchst. b der Verwaltungsvorschriften zu § 72 bis 74 des Gesetzes zu Art. 131 des Grundgesetzes (GG) - G 131 - vom 5. Januar 1961 (Beilage zum Bundesanzeiger 1961 Nr. 9) könne daher die Referendarzeit des Klägers nicht als Nachversicherungszeit berücksichtigt werden. Dies gelte auch für jenen Monat, in dem er als Hilfsamtsanwalt gegen Entgelt beschäftigt gewesen sei, weil er diese Beschäftigung nur vorläufig (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 VGfA) und nur zu gelegentlicher Aushilfe (§ 8 VGfA i. V. m. § 1 der Verordnung vom 9. Februar 1923) ausgeübt habe.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
die vorinstanzlichen Urteile mit den Bescheiden der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm für die Zeit bis zum 31. Oktober 1963 eine höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und für die Zeit ab 1. November 1963 ein höheres Altersruhegeld zu zahlen und dabei eine weitere Nachversicherungszeit von November 1920 bis Februar 1924 sowie für die Rentenbezugszeit bis zum 30. Juni 1965 weitere Ausfallzeiten von November 1913 bis April 1917 und von Februar 1919 bis Oktober 1920 anzurechnen.
Er rügt Verletzung des § 72 Abs. 1 G 131, der §§ 1 Abs. 3, 9, 10 VGfA, des § 1 der Verordnung vom 9. Februar 1923, des § 160 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF und des Art. 3 GG.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat die Ansprüche des Klägers auf Anrechnung weiterer Versicherungs- und Ausfallzeiten mit Recht verneint.
Was die Zeit seiner Beschäftigung als Referendar von November 1920 bis Februar 1924 anbetrifft, so gelten auf Grund des § 72 Abs. 1 G 131 zwar Personen, die unter Art. 131 GG fallen und auf Grund der Vorschriften des G 131 keinen Anspruch oder keine Anwartschaft auf Alters- und Hinterbliebenenversorgung haben - was beim Kläger zutrifft -, für sämtliche Zeiten als nachversichert, in denen sie vor dem 9. Mai 1945 "wegen ihrer Beschäftigung im öffentlichen Dienst" nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze in den gesetzlichen Rentenversicherungen versicherungsfrei waren oder der Versicherungspflicht nicht unterlagen. Zu diesen nachversicherten Zeiten gehört die Referendarzeit des Klägers aber nicht.
Der Begründung des LSG kann der Senat allerdings nur teilweise folgen. Wenn § 72 Abs. 1 G 131 die Nachversicherung für die Zeiten vorsieht, in denen Versicherungsfreiheit oder Nichtversicherungspflicht wegen der Beschäftigung im öffentlichen Dienst bestand, dann sind damit Zeiten gemeint, in denen allein sogenannte beamtenrechtliche Gründe die Versicherungsfreiheit oder Nichtversicherungspflicht bewirkten. Solche beamtenrechtlichen Gründe finden sich heute in § 6 Abs. 1 Nr. 2 - 6 und § 8 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); sie waren vor dem Inkrafttreten dieser Vorschriften in den ihnen entsprechenden Vorschriften zur Zeit der jeweiligen Beschäftigung enthalten (vgl. § 9 AVG, Art. 2 § 4 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -AnVNG). Demzufolge hat das LSG zu Recht geprüft, ob der Kläger als Referendar auf Grund des VGfA vom 20. Dezember 1911 (RGBl I 989) idF der Gesetze vom 10. November 1922 (RGBl I 849) und vom 13. Juli 1923 (RGBl I 636) versicherungsfrei oder nicht versicherungspflichtig gewesen ist. Nach der vom Kläger nicht bestrittenen Auffassung des LSG war er während seiner Referendarzeit auf Grund des § 10 Abs. 1 Nr. 1 VGfA versicherungsfrei, weil er als Beamter (auf Widerruf) lediglich für seinen Beruf ausgebildet wurde (vgl. die nach § 10 Abs. 2 VGfA ergangene Allgemeine Verfügung des Preußischen Justizministers vom 9. Dezember 1912 Ziff. II 1, Die Angestelltenversicherung 1913 S. 238). Diese Versicherungsfreiheit umfaßte die Dauer der Verwendung des Klägers als Hilfsamtsanwalt (25. Mai bis 24. Juni 1923), in der er - wie das LSG angenommen hat (S. 7 der Urteilsgründe) - ein Entgelt erhalten hat; denn nach der genannten Allgemeinen Verfügung vom 9. Dezember 1912 (vgl. aaO) befanden sich die betreffenden Beamten - wie z. B. Referendare - "während der ganzen Dauer des Ausbildungsdienstes lediglich in diesem Dienst, und zwar auch solange sie gegen Entgelt beschäftigt werden". Die Versicherungsfreiheit auf Grund des § 10 Abs. 1 Nr. 1 VGfA ist indessen eine Versicherungsfreiheit aus beamtenrechtlichen Gründen gewesen. Sie entspricht der des heutigen § 6 Abs. 1 Nr. 2 AVG. Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob daneben Versicherungsfreiheit auch nach § 9 VGfA bestanden hat oder diese aus den Gründen des angefochtenen Urteils zu verneinen wäre; denn das Erfordernis der Versicherungsfreiheit aus beamtenrechtlichen Gründen ist an sich schon durch die Versicherungsfreiheit nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 VGfA erfüllt.
Obwohl der Kläger hiernach während seiner gesamten Referendarzeit aus beamtenrechtlichen Gründen versicherungsfrei gewesen ist, so sind doch damit allein die Voraussetzungen für die fiktive Nachversicherung nach § 72 Abs. 1 G 131 noch nicht erfüllt; denn bei Anwendung dieser Bestimmung ist ferner die dem gesamten Nachversicherungsrecht eigentümliche Kausalität zu beachten, d. h. es kommt auch darauf an, ob - wenn der beamtenrechtliche Grund der Versicherungsfreiheit hinweggedacht wird - Versicherungspflicht bestanden hätte. In § 1232 Abs. 1 RVO (§ 9 Abs. 1 AVG) kommt diese Einschränkung durch die Worte "in der sie sonst ... versicherungspflichtig gewesen wären" zum Ausdruck (vgl. BSG 11, 281, 285; 17, 206, 209). Nichts anderes kann nach dem Wortsinn sowie nach der Systematik und nach dem Zweck des Gesetzes für die Auslegung des § 72 Abs. 1 G 131 gelten.
Die fiktive Nachversicherung nach dem G 131 unterscheidet sich zwar sowohl in einzelnen Voraussetzungen als auch in der praktischen Durchführung von der faktischen Nachversicherung des § 1232 RVO = § 9 AVG (BSG 11, 63, 64; Hanow/Lehmann/Bogs, Viertes Buch der Rentenversicherung der Arbeiter, 5. Aufl. Anm. 19 zu § 1232 RVO); sie muß aber dennoch - in gleicher Weise wie die Nachversicherungsbestimmungen des § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes und des Art. 6, §§ 18, 19, 22, 23 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) - immer im Gesamtzusammenhang mit der allgemeinen Nachversicherungsregelung des § 1232 RVO (§ 9 AVG) gesehen werden. Der Nachversicherung liegt der allgemeine Gedanke zugrunde, Lücken im Versicherungsleben zu schließen, die durch die beamtenrechtliche Versicherungsfreiheit oder Nichtversicherungspflicht entstanden sind. Das trifft sowohl auf die faktische wie auf die fiktive Nachversicherung zu, nur daß durch die genannten Sonderregelungen Härten beseitigt werden sollen, die aus den Ereignissen des letzten Krieges und der Nachkriegszeit erwachsen sind (Eicher/Haase, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 3. Aufl., Anm. 2 zu § 1232 RVO). Dieser Gesamtzusammenhang der Sondervorschriften über die fiktive Nachversicherung mit der faktischen Nachversicherung in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten rechtfertigt den Ausschluß der allgemeinen Nachversicherungsgrundsätze bei der Anwendung einer Sondervorschrift nur dann, wenn dies entweder ausdrücklich bestimmt oder vom Zweck der Sonderregelung her geboten ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 22. August 1967 - SozR Nr. 19 zu § 1291 RVO). § 72 G 131 enthält aber keine insoweit abweichende Bestimmung. Dem Zweck dieser fiktiven Nachversicherung entspricht es auch, die betroffenen Personen rentenversicherungsrechtlich im allgemeinen nicht schlechter, aber auch nicht besser zu stellen, als sie gestanden hätten, wenn sie nicht im öffentlichen Dienst, sondern bei einem anderen Arbeitgeber versicherungspflichtig beschäftigt gewesen wären.
Es kommt mithin darauf an, ob der Kläger während seiner Referendarzeit ohne beamtenrechtliche Versicherungsfreiheit versicherungspflichtig gewesen wäre. Dies ist zu verneinen; denn er wäre auch aus nichtbeamtenrechtlichen Gründen versicherungsfrei oder nicht versicherungspflichtig gewesen.
Das LSG ist offensichtlich davon ausgegangen, daß der Kläger während seiner gesamten Referendarzeit - abgesehen von der Zeit der Beschäftigung als Hilfsamtsanwalt - kein Entgelt bezogen hat. Der Kläger hat gegen diese tatsächlichen Feststellungen des LSG keine Revisionsrüge erhoben; sie sind daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Aus ihnen ergibt sich, daß der Kläger für die Zeiten, in denen er kein Entgelt erhielt, schon wegen des fehlenden Entgelts nicht versicherungspflichtig sein konnte (vgl. § 1 Abs. 3 VGfA vom 20. Dezember 1911 und § 1 Abs. 2 VGfA idF des Änderungsgesetzes vom 10. November 1922 sowie § 1 Abs. 3 des Änderungsgesetzes vom 13. Juli 1923). Etwas anderes könnte lediglich für die Zeit gelten, in der er gegen Entgelt als Hilfsamtsanwalt beschäftigt war. In dieser Zeit unterlag er aber auch deshalb nicht der Versicherungspflicht, weil er außerdem als "Person, die zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig (gewesen) ist", nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 VGfA idF des Änderungsgesetzes vom 10. November 1922 versicherungsfrei gewesen ist. Hierbei handelte es sich nicht mehr um eine beamtenrechtliche Versicherungsfreiheit schlechthin; denn sie hatte ihren eigentlichen Grund nicht in der Beschäftigung im öffentlichen Dienst, sondern in der Art der Ausbildung. Ob der Kläger auch noch auf Grund des § 8 VGfA i. V. m. § 1 der Verordnung vom 9. Februar 1923 versicherungsfrei war, kann dahingestellt bleiben.
Der Kläger wäre also in keinem Falle während seiner gesamten Referendarzeit versicherungspflichtig gewesen, sofern er nicht aus beamtenrechtlichen Gründen versicherungsfrei gewesen wäre. Zwar könnte - im Gegensatz zur fiktiven Nachversicherung des § 72 G 131 - heute (seit 1957) die faktische Nachversicherung nach § 1232 Abs. 2 RVO (§ 9 Abs. 2 AVG) für Zeiten eines juristischen Vorbereitungsdienstes nicht mehr daran scheitern, daß in dieser Zeit kein Entgelt bezogen worden ist (vgl. auch § 124 Abs. 2 AVG, Art. 2 § 4 Abs. 1 Satz 2 AnVNG); das Fehlen eines Entgelts ist aber im Falle des Klägers deshalb rechtserheblich, weil es sich um eine fiktive Nachversicherung handelt, die eine Nachversicherung für entgeltlose Zeiten nicht kennt. Somit fehlt es an einer wesentlichen Voraussetzung für die Anwendung des § 72 G 131.
Das hat zur Folge, daß der Kläger auch mit den Anträgen auf Anrechnung weiterer Schul- und Studienzeiten als Ausfallzeiten für die Rentenbezugszeit bis zum 30. Juni 1965 nicht durchdringen kann. Denn nach der bis dahin geltenden Fassung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG (§ 1259 Abs. 1 Nr. 4 RVO) müßte zur Anrechnung solcher Ausfallzeiten noch innerhalb von zwei Jahren nach der Beendigung des Hochschulstudiums eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden sein. Diese Frist ist im Falle des Klägers aber nicht eingehalten, weil die fiktive Nachversicherung erst im März 1924 beginnt, der erste Pflichtbeitrag also erst dann als entrichtet gilt.
Die Revision des Klägers muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen