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BSG Urteil vom 27.02.1964 - 12 RJ 254/63

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Leitsatz (amtlich)

Das Unterbleiben der Darstellung des Sachverhalts in der mündlichen Verhandlung ist ein wesentlicher Mangel des Verfahrens.

 

Normenkette

SGG § 112 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. März 1963 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger bezog Invalidenrente seit dem 1. Oktober 1950. Auf Grund des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes stellte die Beklagte durch Bescheid vom 30. September 1960 die Rente um. Im Klageverfahren begehrt der Kläger eine höhere Rente. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Hessische Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Das Urteil ist dem Kläger am 6. Mai 1963 zugestellt worden. Er hat innerhalb der Revisionsfrist unter Vorlage eines Armutszeugnisses um das Armenrecht nachgesucht. Der Beschluß des Senats, welcher ihm das Armenrecht verweigerte, ist ihm am 22. August 1963 zugestellt worden. Am 16. September 1963 hat er durch seinen Prozeßbevollmächtigten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Revisionsfrist beantragt und die versäumte Prozeßhandlung (Revisionseinlegung) am 20. September 1963 nachgeholt.

Mit der nicht zugelassenen Revision beantragt der Kläger,

das angefochtene Urteil des LSG in Darmstadt vom 21. März 1963 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente nach dem Umstellungsfaktor 4,7 zu zahlen,

hilfsweise,

die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Seine Revision hat der Kläger fristgemäß begründet, indem er rügt, das LSG habe in der mündlichen Verhandlung vom 21. März 1963 wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt. Nach Aufruf der Sache habe der Gerichtsvorsitzende einen von ihm - dem Kläger - überreichten Schriftsatz verlesen, worauf sich das Gericht schon zur Beratung zurückgezogen habe, nach der das Urteil verkündet worden sei. Ihm sei ein mündlicher Vortrag, insbesondere eine Erläuterung seiner schriftlichen Ausführungen, nicht möglich gewesen. Das ihm zustehende rechtliche Gehör sei ihm sonach nicht gewährt worden. Durch die geschilderte Handhabung der mündlichen Verhandlung seien die §§ 106 und 112 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Im übrigen hat der Kläger Ausführungen sachlich-rechtlichen Inhalts gemacht.

Die Beklagte hält einen wesentlichen Mangel des Verfahrens vor dem LSG nicht für gegeben. Ausweislich des Verhandlungsprotokolls vom 21. März 1963 seien die Beteiligten gehört worden. Sie beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die nicht zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet, sofern dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist zu gewähren ist. Das ist hier der Fall, weil der Kläger ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsfrist einzuhalten (§ 67 SGG). Ist die Revision wegen des laufenden Armenrechtsgesuches verspätet eingelegt worden, so trifft den Beteiligten kein Verschulden, wenn das Armenrechtsgesuch innerhalb der Revisionsfrist eingegangen ist (BSG 1, 287, 288). Auch hat der Kläger die versäumte Prozeßhandlung (Revision mit Revisionsantrag) innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Armenrechtsverweigerung nachgeholt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Die Revision ist auch statthaft, da ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts gerügt ist und vorliegt.

Der Kläger hat gerügt, das Berufungsgericht habe in der mündlichen Verhandlung vom 21. März 1963 die §§ 106 und 112 SGG verletzt. Nach § 106 Abs. 1 SGG hat der Vorsitzende des Gerichts darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt und ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden. In entsprechender Weise hat der Vorsitzende gemäß § 112 Abs. 2 SGG zu verfahren, den Beteiligten das Wort zu erteilen und das Sach- und Streitverhältnis mit ihnen zu erörtern. Gemäß § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG beginnt die mündliche Verhandlung nach Aufruf der Sache mit der Darstellung des Sachverhalts.

Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 21. März 1963, die dem angefochtenen Urteil vorausging, wurden die Beteiligten, also auch der Kläger gehört. Nach Verlesung des von dem Kläger überreichten Schriftsatzes vom 21. März 1963 haben die Beteiligten, darunter der Kläger, ihre Sachanträge gestellt. Erst darauf hat der Vorsitzende des Senats die mündliche Verhandlung geschlossen. Aus der Sitzungsniederschrift, gegen die der Kläger nicht den Vorwurf der Fälschung erhoben hat (§ 122 Abs. 3 SGG; § 164 Satz 2 der Zivilprozeßordnung), ergibt sich insoweit kein Verfahrensmangel. Die Rügen des Klägers können daher nur dahin aufgefaßt werden, daß der Vorsitzende des Gerichts nicht genügend darauf hingewirkt habe, daß der Vortrag des Klägers in tatsächlicher Hinsicht ergänzt werde (§ 106 Abs. 1 SGG), daß er das Sach- und Streitverhältnis nicht genügend erörtert habe (§ 112 Abs. 2 SGG) und daß er dem Kläger nicht ausreichend vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt habe (§ 62 SGG).

Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob das LSG etwa unter bestimmten Gesichtspunkten das dem Kläger zustehende rechtliche Gehör nicht gewährt hat; denn die vom Kläger durch seine Schilderung des Ablaufs der mündlichen Verhandlung und die Berufung auf § 112 SGG gerügte Verletzung des § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG liegt vor. Nach dieser Vorschrift beginnt die mündliche Verhandlung nach Aufruf der Sache mit der Darstellung des Sachverhalts. Ausweislich der Sitzungsniederschrift hat aber weder der Vorsitzende noch ein anderer Richter den Sachverhalt dargestellt. In dem für die Niederschrift verwandten Formblatt sind die vorgedruckten Worte "Der Berichterstatter trägt den Sachverhalt vor" sowohl mit der Schreibmaschine als auch mit der Hand durchgestrichen. Die Darstellung des Sachverhalts ist ein besonders bedeutsamer Teil der mündlichen Verhandlung (Teutsch, KOV 1954, 83), sie kann als das Kernstück der mündlichen Verhandlung bezeichnet werden. Sie bezweckt, diejenigen der beisitzenden Richter einschließlich der ehrenamtlichen, welche die Akten nicht kennen, mit dem Sach- und Streitverhältnis vertraut zu machen, ist aber auch für die Beteiligten schon deshalb von erheblicher Bedeutung, weil sie ihnen ermöglicht, zu erkennen, was der Vorsitzende oder der Berichterstatter aus dem Sachverhalt für wesentlich hält, und ihnen Gelegenheit gibt, die Darstellung des Sachverhalts zu ergänzen oder zu berichtigen, wenn sie dies für erforderlich halten. Durch Unterlassen der Darstellung des Sachverhalts hat das LSG gegen § 112 Abs. 1 Satz 1 SGG verstoßen. Dieser hinreichend gerügte Mangel ist auch wesentlich; denn die Vorschrift über die Darstellung des Sachverhalts in der mündlichen Verhandlung ist eine zwingende Verfahrensvorschrift, die aus rechtsstaatlichen Gründen im öffentlichen Interesse erlassen ist.

Die hiernach zulässige Revision ist auch begründet. Das Urteil des LSG beruht auf dem gerügten Verfahrensmangel, denn es ist nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, daß das Gericht bei vorausgegangener Sachdarstellung anders erkannt hätte. Das angefochtene Urteil war daher auf die Revision des Klägers aufzuheben.

Da die Feststellungen des LSG auf Grund einer mündlichen Verhandlung zustande gekommen sind, die verfahrensrechtlich unter dem Gesichtspunkt des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht fehlerfrei war, kann der Senat die Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht benützen, um damit eine eigene Sachentscheidung zu begründen. Der Senat ist daher gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGG). Die Sache war vielmehr zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Der Kostenausspruch bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

NJW 1964, 1544

MDR 1964, 710

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