Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensmangel in verschiedenen Instanzen. Rüge einer Gesetzesverletzung
Orientierungssatz
1. Die unzutreffende Beurteilung von Mängeln im Verfahren der ersten Instanz durch das Berufungsgericht stellt keinen Mangel des Berufungsverfahrens dar. Ein in einem früheren Rechtszug unterlaufener Verfahrensmangel kann nur dann das Verfahren weiterer Instanzen gleichermaßen als fehlerhaft erscheinen lassen, wenn der Mangel von Amts wegen in jeder Instanz zu berücksichtigen ist (vgl BSG 1955-12-15 4 RJ 108/54 = SozR Nr 40 zu § 162 SGG).
2. Verfahrensmangel iS von § 162 Abs 1 Nr 2 SGG ist nur ein Mangel im gerichtlichen Verfahren. Die Rüge, der §§ 48 AVAVG ff seien fehlerhaft angewendet oder ausgelegt worden, betrifft keinen Mangel des Verfahrens.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1958-08-23; AVAVG § 48 Fassung: 1957-04-03
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 20.06.1962) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 24.10.1961) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 1962 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Dem Kläger war nach 1952 wiederholt Arbeitslosenunterstützung (Alu) oder Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu) gewährt worden; ab Januar 1958 bezog er Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe (Alhi). Mit Bescheid vom 2. Juli 1958 hatte die beklagte Bundesanstalt gegen ihn eine Sperrfrist von 24 Wochentagen verhängt, weil er einen zugewiesenen Arbeitsplatz nicht angetreten hatte. Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 4. August, zugestellt am 13. August 1958) erhob der Kläger hiergegen zunächst beim Verwaltungsgericht (VG) Frankfurt/Main Klage; dabei stellte er eine Reihe von Anträgen mit dem Ziele, die Beklagte zu verurteilen, ihm Stellenangebote nicht vorzuenthalten, ihm nicht besetzte Arbeitsplätze zuzuweisen und ihn nicht negativ zu kennzeichnen. Durch Urteil des VG wurde der Verwaltungsrechtsweg als unzulässig erklärt und der Rechtsstreit an das Sozialgericht (SG) Frankfurt/Main verwiesen. Auf die Berufung des Klägers hob der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) das Urteil des VG auf, soweit darin eine Verweisung des Rechtsstreits an das SG ausgesprochen war, im übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen und die Anfechtungsklage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hob das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) - Beschluß vom 19. August 1960 - die vorausgegangenen Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsinstanzen auf, erklärte den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten für unzulässig und verwies die Sache an das SG Frankfurt/Main.
Vor dem SG stellte der Kläger die gleichen Anträge wie vor dem VG, nämlich:
1. festzustellen, daß die Beklagte ihm in seinem Beruf vorhandene Stellenangebote nicht vorenthalten dürfe und verpflichtet sei, ihn auf Grund dieser Stellenangebote einem Arbeitgeber zuzuweisen;
2. die Beklagte für verpflichtet zu erklären, es zu unterlassen, ihn im Auftrag einer dritten Behörde an fingierte Arbeitsplätze zu beordern und Arbeitgeber gegen ihn zu beeinflussen;
3. Einsichtnahme in die Kartei für technische Angestellte zu gewähren, um festzustellen, daß ihm offene Stellen vorenthalten worden seien und daß er an fingierte Arbeitsplätze beordert worden sei, für die Stellenangebote nicht vorlagen;
4. festzustellen, daß die im Mai 1953 erfolgte Zuweisung des Klägers durch das Arbeitsamt an die Firma B, Bü, rechtswidrig gewesen sei, weil sie dazu gedient habe, die privatrechtlichen Beziehungen des Klägers zu stören;
5. festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, in einer Akte an den Vertrauensarzt von Juni 1955 die Lüge, daß der Kläger die Arbeit niedergelegt habe und nicht arbeiten wolle, zu streichen und durch den wahren Entlassungsgrund "für diese Arbeit ungeeignet" zu ersetzen;
6. den Widerspruchsbescheid vom 4. August 1958 aufzuheben.
Außerdem erklärte er, daß er von der beklagten Bundesanstalt Schadenersatz begehre und beantragte insoweit hilfsweise, den Rechtsstreit an das Landgericht Nürnberg zu verweisen.
Das SG erklärte, soweit vom Kläger Schadenersatzansprüche geltend gemacht wurden, den zum SG beschrittenen Rechtsweg für unzulässig und verwies diesbezüglich den Rechtsstreit an das Landgericht Nürnberg. Im übrigen wurde die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Oktober 1961). Die Berufung des Klägers wies das Hessische Landessozialgericht (LSG) zurück Urteil vom 20. Juni 1962). Zu Recht habe das SG die Klage als unzulässig abgewiesen. Da der Kläger gegen den ihm am 13. September 1958 zugestellten Widerspruchsbescheid erst am 3. November 1958 bei dem VG Klage eingereicht habe, sei die Rechtsmittelfrist von ihm versäumt worden. Rechtfertigungsgründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien weder aus dem Vorbringen des Klägers noch sonst wie ersichtlich. Eine Prüfung in sachlicher Beziehung habe daher das SG zutreffend als nicht statthaft angesehen. Auch bezüglich der übrigen Punkte des Klagebegehrens, mit denen sich der Kläger gegen angebliche Handlungen oder Unterlassungen der Beklagten bei der Arbeitsvermittlung in den vergangenen Jahren wende, sei eine materiell-rechtliche Prüfung zu Recht unterblieben. Der Kläger habe nicht behauptet, die Beklagte sei ihrer nach §§ 58 ff des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) - aF - bestehenden Verpflichtung zur Arbeitsvermittlung überhaupt nicht nachgekommen und habe auch nicht deren Verurteilung zu seiner vermittlungsmäßigen Betreuung begehrt. Bezüglich seiner Klaganträge fehle es an einem anfechtbaren Verwaltungsakt. Aber selbst wenn man einen solchen annehme, mangele es an einer Prozeßvoraussetzung, weil ein Vorverfahren nicht stattgefunden habe.
Revision wurde nicht zugelassen.
II. Gegen das am 20. Juli 1962 zugestellte Urteil legte der Kläger form- und fristgerecht Revision ein. Von ihm wird im Revisionsverfahren auf die Anfechtung des Widerspruchsbescheides verzichtet; er rügt aber weiterhin, das LSG habe §§ 48 ff AVAVG nF unrichtig angewendet, indem es trotz zahlreicher Beweisangebote jegliche Aufklärung und Prüfung darüber unterlassen habe, daß die Bediensteten der Beklagten seine Betreuung nicht sachlich und unparteiisch wahrgenommen, insbesondere die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften verletzt hätten. Das LSG nehme zu Unrecht an, daß es an einer Prozeßvoraussetzung fehle, weil kein Vorverfahren stattgefunden habe.
Dieses sei hier nicht vorgeschrieben, denn nach § 54 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) könne mit der Klage die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch bestehe, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen habe. Der Kläger habe ein Rechtsschutzinteresse, da die begründete Befürchtung bestehe, das für ihn zuständige Arbeitsamt werde ihn auch weiterhin nicht unparteiisch behandeln.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte kostenpflichtig zu verurteilen, auf Verlangen des Klägers seine vermittlungsmäßige Betreuung gemäß dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, insbesondere §§ 48 ff AVAVG, unparteiisch vorzunehmen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Rüge der mangelnden Sachaufklärung sei nicht begründet. Der sachlich-rechtliche Standpunkt des LSG sei dahingegangen, daß es an einem anfechtbaren Verwaltungsakt fehle und die Klage mithin unzulässig sei oder aber, falls ein Verwaltungsakt vorliegen sollte, daß dann das erforderliche Vorverfahren nicht durchgeführt wurde. Von diesem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus habe für das LSG kein Anlaß bestanden, den Sachverhalt weiter zu erforschen. Wenn der Kläger außerdem Verstöße gegen §§ 48 ff AVAVG rüge, so sei allein die Verletzung materiellen Rechts betroffen.
III. Die Revision des Klägers ist nicht statthaft. Nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG findet eine von dem LSG nicht zugelassene Revision nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird. Die Behauptung eines solchen allein genügt jedoch nicht, selbst wenn sie substantiiert aufgestellt wird; der gerügte wesentliche Verfahrensmangel muß vielmehr auch tatsächlich vorliegen (BSG 1, 150, 254; Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGb § 162 III/80 - 32/33; Haueisen in NJW 1955, 1587). Dabei muß es sich um einen Mangel des Verfahrens vor dem Berufungsgericht handeln. Eine etwaige unzutreffende Beurteilung von Mängeln im Verfahren erster Instanz durch das LSG ist kein Mangel des Berufungsverfahrens. Ein in erster Instanz unterlaufener Verfahrensmangel macht nur dann das Verfahren im weiteren Gerichtszug fehlerhaft, wenn der Mangel von Amts wegen in jeder Instanz zu berücksichtigen ist (BSG in SozR SGG § 162 Nr. 40). Ein solcher Verfahrensmangel ist jedoch nicht ersichtlich.
Vom Kläger wird gerügt, das LSG habe die Vorschriften der §§ 48 ff AVAVG unrichtig angewendet. Damit wird von ihm indessen kein Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts dargetan, sondern die fehlerhafte Anwendung oder Auslegung des materiellen Rechts seitens der Vorderrichter behauptet. Eine solche Rüge vermag jedoch eine nicht zugelassene Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht statthaft zu machen. Nur der Weg zum Urteil - also die bis zur Urteilsfindung und die bei dieser selbst anzuwendenden Verfahrensvorschriften -, nicht aber der sachliche Inhalt des Urteils fällt unter diese Vorschrift (BSG in SozR SGG § 162 Nr. 40). Ferner wendet sich der Kläger gegen die Ansicht des Berufungsgerichts, daß die Klage unzulässig sei, weil kein Vorverfahren stattgefunden habe. Hierdurch wird ebenfalls wieder nicht ein Verstoß des LSG gegen Verfahrensvorschriften gerügt, sondern dessen Sachentscheidung bemängelt.
IV. Nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist hat der Kläger zusätzlich ausgeführt, seiner Auffassung nach erweise sich seine Rüge der mangelnden Sachaufklärung als begründet. Innerhalb der gesetzlichen Frist ist jedoch eine solche vom Kläger nicht erhoben worden, denn von ihm wurde nicht ein Verfahrensmangel in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgeschriebenen Form gerügt. Verfahrensrügen, die jenem Formerfordernis nicht entsprechen, sind nicht geeignet die Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zu begründen (BSG in SozR SGG § 162 Nr. 81). Schon in der Revisionsbegründung müssen jeweils außer der verletzten Rechtsnorm die Tatsachen- und Beweismittel in den wesentlichen Punkten bestimmt bezeichnet werden, die den gerügten Verfahrensmangel ergeben sollen (BGHZ 14, 205). Hierbei braucht zwar die verletzte Rechtsnorm nicht ausdrücklich angegeben zu werden, sofern sich nur aus den substantiiert vorgebrachten Tatsachen klar ergibt, welche Verfahrensvorschrift als verletzt angesehen wird (BSG 1, 227). Aus dem Vortrag des Klägers innerhalb der Revisionsbegründungsfrist läßt sich aber nicht entnehmen, daß von ihm ein Verstoß des LSG gegen § 103 SGG tatsächlich gerügt wurde.
Selbst wenn man aber annehmen würde, mit der Rüge des Klägers, das Berufungsgericht habe die Vorschriften der §§ 48 ff AVAVG nicht richtig angewendet, solle in Wirklichkeit eine fehlerhafte Sachaufklärung als Verfahrensmangel gerügt werden, da sonst sein Tatsachenvortrag und seine Beweisangebote ohne Sinn wären, könnte dies nicht die Statthaftigkeit der Revision bewirken. Die Frage, ob das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, ist von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zu beurteilen und nicht von jenem des Revisionsgerichts (BSG 2, 84). Nach Ansicht des Berufungsgerichts fehlte es bezüglich sämtlicher jetzt noch anhängigen Klaganträge an einem Verwaltungsakt, der angefochten werden kann oder aber, falls ein solcher vorliegen sollte, an einer Prozeßvoraussetzung, weil das gesetzlich vorgeschriebene Vorverfahren nicht stattgefunden hat. Zwar hat das Berufungsgericht seine Rechtsauffassung über die in Betracht kommenden Vermittlungsvorgänge und Verwaltungshandlungen nicht mit letzter Deutlichkeit dargelegt. Von seinem aus den Entscheidungsgründen erkennbaren Rechtsstandpunkt aus, der für den Senat als Revisionsinstanz Ausgangspunkt der Beurteilung sein mußte, war das LSG indessen nicht gezwungen, die benannten Zeugen zu hören oder sonstige Ermittlungen anzustellen.
V. Die nicht zugelassene Revision blieb somit unstatthaft.
Das Rechtsmittel war nach alledem als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).
In eine sachlich-rechtliche Prüfung und damit auch in eine Beurteilung der vorausgegangenen, vom Kläger beanstandeten Verwaltungsvorgänge konnte der erkennende Senat nicht eintreten.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen