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BSG Urteil vom 10.08.1982 - 4 RJ 19/81

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Leitsatz (amtlich)

Ein selbständiger Handwerker übt eine selbständige Erwerbstätigkeit iS von § 1247 Abs 2 S 2 RVO aus, solange er in der Handwerksrolle eingetragen ist (Anschluß an und Fortführung von BSG 1977-12-15 11 RA 6/77 = BSGE 45, 238).

 

Normenkette

RVO § 1247 Abs 2 S 2 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 20.11.1980; Aktenzeichen L 6 J 63/79)

SG Gießen (Entscheidung vom 21.11.1978; Aktenzeichen S 2 J 243/77)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin ihres am 15. Juli 1977 verstorbenen Ehemannes (Versicherter) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Der Versicherte war seit 1963 als selbständiger Schlosser- und Installateurmeister tätig und bis zu seinem Tode in der Handwerksrolle eingetragen. Im Oktober 1975 erkrankte er an einem Bronchial-Karzinom. In der Folgezeit befand er sich vom 16. Oktober bis zum 19. Dezember 1975, vom 19. März bis zum 10. Mai sowie vom 29. Oktober bis zum 2. Dezember 1976, vom 19. Januar bis zum 1. April und am 14./15. Juli 1977 in stationärer Behandlung. Nach einer Bescheinigung seines Hausarztes Dr. B. vom 30. September 1978 war er vorwiegend bettlägerig und pflegebedürftig; es sei oft zu Bewußtseinstrübungen gekommen, und er sei nicht in der Lage gewesen, irgendwelche körperliche oder geistige Leistungen zu erbringen.

Im Juli 1976 beantragte der Versicherte Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte, deren Prüfärzte zu dem Ergebnis gelangt waren, dem Versicherten seien seit Oktober 1975 keine Arbeiten im Erwerbsleben mehr zumutbar gewesen, gewährte durch Bescheid vom 15. Dezember 1976 für die Zeit ab Juli 1976 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Den Widerspruch wies sie zurück: Zwar sei der Versicherte aus medizinischer Sicht erwerbsunfähig, doch erwirtschafte er noch ohne eigene Mitwirkung mehr als nur geringfügige Einkünfte, so daß die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit an § 1247 Abs 2 letzter Satz Reichsversicherungsordnung (RVO) scheitere (Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 1977).

Das Sozialgericht (SG) Gießen hat nach Vernehmung von Zeugen die Beklagte verurteilt, der Klägerin als Rechtsnachfolgerin des Versicherten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 21. November 1978). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im Urteil vom 20. November 1980 ausgeführt: Der Kläger sei erwerbsunfähig, da er unstreitig keine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit mehr ausüben könne. Die negative Voraussetzung des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO, daß nicht erwerbsunfähig sei, wer eine selbständige Tätigkeit ausübe, liege nicht vor. Ungeachtet der Meldung bei Gewerbe- und Steuerbehörden fehle es an der "Ausübung", wenn der Versicherte als gewerblicher Unternehmer nicht mehr aktiv oder direktiv tätig sei und auch keinen maßgebenden Einfluß auf das Betriebsgeschehen mehr habe. Dies treffe hier zu. Beide Zeugen hätten auch übereinstimmend bekundet, daß dem Zeugen M. (Sohn des Versicherten) die Führung des Betriebs obgelegen habe.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO. Es komme nicht darauf an, wie sich der Selbständige am Geschäftsbetrieb beteilige; entscheidend sei, daß die auf das Geschäft gerichteten Handlungen in seinem Namen ausgeführt würden, und es reiche aus, daß er kraft seiner unternehmerischen Stellung Einfluß zu nehmen vermöge. Auch das LSG gehe davon aus, daß der Versicherte handlungs- und geschäftsfähig gewesen sei.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. November 1980 und das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 21. November 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend; sie meint, der Kläger sei geschäftsunfähig gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Klägerin steht als Rechtsnachfolgerin des Versicherten kein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente zu.

Es bedarf im vorliegenden Fall keiner Erörterung, daß der Versicherte, der aufgrund des Bescheids vom 15. Dezember 1976 Rente wegen Berufsunfähigkeit bezog, auch die Voraussetzungen des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO erfüllte. Das räumt auch die Beklagte ein. Gleichwohl bestand bei ihm bis zu seinem Tode keine Erwerbsunfähigkeit; denn er erfüllte die (negative) Voraussetzung des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO, wonach nicht erwerbsunfähig ist, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt.

Das LSG hat dem Wort "ausüben" besondere Bedeutung beigemessen und die Ansicht vertreten, ein gewerblicher Unternehmer, der nach den tatsächlichen Verhältnissen nicht mehr aktiv oder direktiv tätig sei und auch keinen maßgebenden Einfluß auf das Betriebsgeschehen mehr habe, übe keine selbständige Tätigkeit aus. Diese Auslegung wird dem Sinn und Zweck der Vorschrift jedoch nicht gerecht. Der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat im Urteil vom 15. Dezember 1977 - 11 RA 6/77 - (= BSGE 45, 238, 239 = SozR 2200 § 1247 Nr 19) ausgeführt, ein gewerblicher Unternehmer übe selbständige Erwerbstätigkeit aus, solange auf den Geschäftsbetrieb gerichtete Handlungen in seinem Namen vorgenommen würden. Es komme nicht darauf an, ob und in welcher Weise er sich nach außen oder innen am Geschäftsbetrieb beteilige, es genüge, daß er kraft seiner Unternehmerstellung den notwendigen Einfluß zu nehmen vermöge. Deshalb könne er auch das Geschäft durch andere betreiben lassen; solange er der Unternehmer bleibe, sei ihm der Geschäftsbetrieb als selbständige Erwerbstätigkeit zuzurechnen.

Dem schließt sich der Senat an. Dagegen spricht nicht die Entstehungsgeschichte des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO, der durch das Rentenreformgesetz (RRG) angefügt wurde. Der Satz geht auf einen von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten "Entwurf eines Gesetzes über die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige" (Drucks VI/2153) zurück, wo es in der Begründung B - Besonderer Teil - heißt, die Vorschrift stelle klar, daß keine Erwerbsunfähigkeit vorliege, solange eine selbständige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt werde. Abgesehen davon, daß "Klarstellung" nicht in dem Sinne verstanden werden kann, es werde nur verdeutlicht, was bislang schon Rechtens gewesen sei (vgl BSGE aaO S 240), hat auch die adverbiale Bestimmung "tatsächlich" nicht das Gewicht, das ihr LSG und Klägerin anscheinend beilegen. Die Bedeutung des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO wird am ehesten bei einem Vergleich mit Satz 1 der Vorschrift verständlich: Während dort die Fähigkeit, eine Erwerbstätigkeit in gewissem zeitlichen Umfang oder mit einem bestimmten minimalen finanziellen Erfolg auszuüben, maßgebend ist, kommt es hier auf die (tatsächlich) ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit oder - im Sinne des geltend gemachten Anspruchs - darauf an, daß keine(rlei) selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Der 11. Senat (BSGE aaO sowie Urteil vom 30. April 1981 - 11 RA 32/80 - = SozR 2200 § 1247 Nr 34) und, ihm folgend der erkennende Senat (Urteil vom 12. Februar 1981 - 4 RJ 137/79 - = SozR aaO Nr 32) haben bereits darauf hingewiesen, daß nach Sinn und Zweck der Vorschrift der Empfänger einer für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bestimmten Rente daneben nicht Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit solle beziehen können, zumal der Selbständige nicht selten die Möglichkeit habe, sein Geschäft durch andere betreiben zu lassen und dadurch Einkünfte zu erzielen. § 1247 Abs 2 Satz 2 ist als Sondervorschrift zu Satz 1 zu verstehen: Sie betrifft die Selbständigen, deren Erwerbsfähigkeit über das Maß der Berufsunfähigkeit hinaus gemindert ist und die aus diesem Grunde eine Rente beanspruchen. Bei ihnen ist es gerechtfertigt, wenn jedwede selbständige Erwerbstätigkeit den Anspruch ausschließt (vgl SozR aaO Nr 34 S 71).

Diese an Wortlaut und Zielsetzung des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO anknüpfende Auslegung, die dem Unternehmer, der eine Erwerbsunfähigkeitsrente erstrebt, abfordert, jegliche Erwerbstätigkeit aufzugeben (vgl im Zusammenhang mit Art 2 § 9a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes idF des RRG auch BSG, Urteil vom 11. September 1980 - 1 RA 61/79 - = SozR 5750 Art 2 § 9a Nr 10), verschafft im übrigen dem Selbständigen gegenüber dem Arbeitnehmer auch eine größere Gestaltungsbefugnis: Ihm steht es im praktischen Ergebnis frei, den Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit hinauszuschieben. Dafür mögen im Einzelfall versicherungsrechtliche Gründe maßgebend sein, oft werden aber auch andere Erwägungen den Ausschlag geben. So erfolgte im vorliegenden Fall nach der Aussage des Zeugen B. M. keine Aufgabe des Betriebes, weil der Steuerberater der Auffassung war, es sei im Hinblick auf vier minderjährige Kinder steuerlich günstiger, die Übertragung des Betriebs noch nicht vorzunehmen. Setzt aber ein Selbständiger seine Erwerbstätigkeit fort und nimmt er nach außen hin und in anderen Rechtsbereichen die rechtliche Stellung eines Unternehmers in Anspruch - zB durch Versteuerung von Einkünften aus selbständiger Tätigkeit -, dann muß grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß er diese Rechtsstellung nicht nach Belieben in Einzelbereichen verändern kann (so bereits BSG, Urteil vom 25. November 1955 - 2 RU 32/54 - = SozR Nr 1 Aa 3 zu § 537 RVO).

Hinzu kommt im vorliegenden Fall die vom Berufungsgericht nicht gewürdigte Besonderheit, daß ausweislich der Feststellungen im angefochtenen Urteil der Versicherte bis zu seinem Tode in der Handwerksrolle eingetragen war. Soweit das LSG im Anschluß an BSGE 45, 238, 240 ausführt, die Anzeige- und Meldevorschriften der Gewerbeordnung sowie der Abgabenordnung hätten nur Ordnungscharakter, weshalb ihre Erfüllung lediglich Indiz für eine tatsächlich noch ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit sei, sind dies Gesichtspunkte, die auf die Eintragung in der Handwerksrolle nicht übernommen werden können. Die Handwerksrolle ist ein öffentliches Register (vgl § 6 der Handwerksordnung - HandwO idF vom 28. Dezember 1965). Das Handwerkerversicherungsgesetz -HwVG- vom 8. September 1960 (BGBl I, 737) knüpft die Versicherungspflicht eines Handwerkers (solange er Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit für weniger als 216 Kalendermonate entrichtet hat) an die Eintragung in der Handwerksrolle an. Deshalb hat das BSG im Urteil vom 18. März 1969 - 11 RA 279/67 - (= BSGE 29, 176 = SozR Nr 49 zu § 1248 RVO) entschieden, eine selbständige Handwerkerin übe, solange sie in der Handwerksrolle eingetragen sei, eine Erwerbstätigkeit iS des § 1248 Abs 3 RVO idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 aus; es hat eine unwiderlegbare Vermutung angenommen und ausgeführt, das Gesetz unterstelle für die Dauer der Eintragung die Ausübung der handwerklichen Erwerbstätigkeit ohne Zulassung eines Gegenbeweises. Ob dieser Auffassung vorbehaltlos zu folgen, insbesondere, ob diese Auslegungsregel uneingeschränkt auf die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit iS von § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO übertragbar ist, kann letztlich dahinstehen. Immerhin kommt aber der gesetzgeberische Wille, generalisierend und typisierend auf die Eintragung in der Handwerksrolle - und nicht auf das tatsächliche Ausführen einer Erwerbstätigkeit - abzuheben, auch in § 3 Abs 2 HwVG zum Ausdruck, wonach Arbeitslosigkeit iS der §§ 1248 Abs 2, 1251 Abs 1 und 1259 Abs 1 Nr 3 RVO nur vorliegt, wenn und solange der Handwerker in der Handwerksrolle gelöscht ist.

Deshalb ist der Senat der Auffassung, daß allenfalls beim Vorliegen ganz besonderer, nur ausnahmsweise eintretender Umstände die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit iS von § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO trotz (fort)bestehender Eintragung in der Handwerksrolle zu verneinen sein könnte. Solche Umstände sind indes nicht erkennbar, insbesondere bestehen auch für die Annahme einer Geschäftsunfähigkeit des Versicherten keine Anhaltspunkte. Wie die Revision mit Recht ausführt, ist offensichtlich auch das LSG davon ausgegangen, daß der Versicherte während des strittigen Zeitraumes geschäftsfähig gewesen ist. Der Betrieb arbeitete, wie dem Urteil des LSG zu entnehmen ist, jedenfalls bis zum Tode des Versicherten weiter. Dieser allein trug das Unternehmerrisiko. Ihm war daher der Geschäftsbetrieb als selbständige Erwerbstätigkeit zuzurechnen. Folgte man der Ansicht des Berufungsgerichts, so müßte Selbständigen auch in den Fällen, in denen diese noch durch den Betrieb ihres Geschäfts erhebliche Gewinne erzielen, die Erwerbsunfähigkeitsrente gewährt werden, obwohl das dem von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Sinn und Zweck des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO zuwiderliefe. Da der Versicherte anstatt der Rente wegen Berufsunfähigkeit eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit erstrebte, wäre es ihm zuzumuten gewesen, den Betrieb aufzugeben oder ihn einem anderen, möglicherweise einem Familienangehörigen, zu übertragen (vgl hierzu SozR 2200 § 1247 Nr 32 S 66, 67 und Nr 34 S 71).

Nach alledem mußten die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660467

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