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BGH Beschluss vom 12.04.2011 - VI ZB 31/10

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulassung der Berufung bei nachträglicher Herabsetzung der Beschwer durch das Berufungsgericht. Nachholung der Berufungszulassung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Einführung von im Strafverfahren protokollierten Zeugenaussagen als Urkundenbeweis im Zivilverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

a) Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zuzulassen, weil es von einer Beschwer der unterlegenen Partei ausgegangen ist, die 600 EUR übersteigt, muss das Berufungsgericht, wenn es von einer geringeren Beschwer ausgeht, die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO erfüllt sind.

b) Hätte das erstinstanzliche Gericht die Berufung zulassen müssen, kann das Rechtsbeschwerdegericht die Zulassung nachholen.

c) Die Niederschrift der in einem Strafverfahren protokollierten Zeugenaussagen kann im Wege des Urkundenbeweises in den Zivilprozess eingeführt werden.

 

Normenkette

ZPO § 511 Abs. 4

 

Verfahrensgang

LG Cottbus (Beschluss vom 06.05.2010; Aktenzeichen 1 S 177/09)

AG Cottbus (Urteil vom 16.09.2009; Aktenzeichen 45 C 444/08)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Cottbus vom 6.5.2010 aufgehoben.

Die Berufung gegen das Urteil des AG Cottbus vom 16.9.2009 wird zugelassen.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Das Land Brandenburg macht aus gem. § 5 OEG i.V.m. § 81a BVG übergegangenem Recht einen Schadensersatzanspruch aus § 823 BGB gegen den Beklagten geltend. Im jetzigen Verfahren begehrt der Kläger die Feststellung, eine im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Beklagten angemeldete Forderung beruhe auf einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung.

Rz. 2

Das AG hat die Klage abgewiesen. Der Inhalt der Strafakte sei zwar unstreitig. Da ein unmittelbarer Beweis nicht angeboten worden sei, sei aber das Berufen des Klägers alleine auf die Strafakte nicht möglich. Den Streitwert hat das AG auf 1.999,63 EUR festgesetzt.

Rz. 3

Das LG hat den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 499,91 EUR festgesetzt und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Nach § 511 Abs. 2 ZPO sei die Berufung nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 EUR übersteige oder das Gericht des ersten Rechtszugs die Berufung im Urteil zugelassen habe. Beides sei nicht der Fall. Der Streitwert der Klage, mit der die Feststellung begehrt werde, eine angemeldete Forderung beruhe auf einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung, bemesse sich nicht nach dem Nennwert der Forderung. Maßgeblich seien vielmehr die späteren Vollstreckungsaussichten des Insolvenzgläubigers nach Beendigung des Insolvenzverfahrens und Erteilung der Restschuldbefreiung. Wenn diese - wie hier - nur als gering anzusehen seien, könne ein Abschlag von 75 % des Nennwerts der Forderung angemessen sein.

Rz. 4

Mit der Rechtsbeschwerde beanstandet der Kläger die Verwerfung der Berufung und verfolgt seinen Klageanspruch weiter.

II.

Rz. 5

Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

Rz. 6

1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO).

Rz. 7

2. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, weil er, wie der Kläger mit Recht beanstandet, nicht ausreichend mit Gründen versehen ist, und weder das AG noch das Berufungsgericht geprüft haben, ob ein Zulassungsgrund vorliegt.

Rz. 8

a) Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, müssen den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben und den Streitgegenstand und die Anträge in beiden Instanzen erkennen lassen; andernfalls sind sie nicht mit den nach dem Gesetz (§§ 576 Abs. 3, 547 Nr. 6 ZPO) erforderlichen Gründen versehen (vgl. BGH v. 20.6.2006 - VI ZB 75/05, VersR 2006, 1423 Rz. 14; v. 17.11.2009 - VI ZB 58/08, VersR 2010, 687 Rz. 4; BGH, Beschl. v. 28.4.2008 - II ZB 27/07, WM 2009, 329 Rz. 4; v. 26.1.2009 - II ZB 6/08, NJW 2009, 1083 Rz. 10; v. 14.6.2010 - II ZB 20/09, NJW-RR 2010, 1582 Rz. 5). Das Rechtsbeschwerdegericht hat grundsätzlich von dem Sachverhalt auszugehen, den das Berufungsgericht festgestellt hat (§§ 577 Abs. 2 Satz 4, 559 ZPO). Enthält der angefochtene Beschluss keine tatsächlichen Feststellungen, ist das Rechtsbeschwerdegericht zu einer rechtlichen Überprüfung nicht in der Lage. Dies gilt gerade auch dann, wenn das Berufungsgericht die Berufung verwirft, weil die Berufungssumme nicht erreicht ist (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Denn die Wertfestsetzung kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur darauf hin überprüft werden, ob das Berufungsgericht die Grenzen des ihm von § 3 ZPO eingeräumten Ermessens überschritten oder rechtsfehlerhaft von ihm Gebrauch gemacht hat (vgl. BGH, Beschl. v. 14.6.2010 - II ZB 20/09, a.a.O.).

Rz. 9

Diesen Maßstäben wird der Verwerfungsbeschluss des LG vom 6.5.2010 nicht gerecht, auch wenn man den in Bezug genommenen Streitwertbeschluss vom 26.3.2010 mitberücksichtigt. Insbesondere wird in beiden Beschlüssen der maßgebliche Sachverhalt, über den entschieden werden soll, nicht wiedergegeben und auch nicht auf das Urteil des AG Bezug genommen. Der Verwerfungsbeschluss enthält mithin nicht die für eine Sachprüfung des Rechtsbeschwerdegerichts erforderlichen Tatsachen.

Rz. 10

b) Der angefochtene Beschluss ist auch deswegen aufzuheben, weil das Berufungsgericht - bevor es die Berufung mangels ausreichender Beschwer verworfen hat - keine Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen hat, obgleich das erstinstanzliche Gericht davon ausgegangen ist, dass die Beschwer der unterlegenen Partei 600 EUR übersteigt und deswegen keine solche Prüfung vorgenommen hat.

Rz. 11

aa) Nach § 511 Abs. 2 ZPO ist die Berufung gegen die im ersten Rechtszug erlassenen Endurteile nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 EUR übersteigt (Nr. 1) oder das Gericht des ersten Rechtszugs die Berufung im Urteil zugelassen hat (Nr. 2). Gemäß § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO lässt das Gericht des ersten Rechtszugs die Berufung zu, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die unterlegene Partei durch das Urteil nicht mit mehr als 600 EUR beschwert ist. Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zuzulassen, weil es von einer Beschwer der unterlegenen Partei ausgegangen ist, die 600 EUR übersteigt, muss das Berufungsgericht, wenn es von einer geringeren Beschwer ausgeht, die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO erfüllt sind (vgl. BGH v. 26.10.2010 - VI ZB 74/08, NJW 2011, 615 Rz. 12; v. 5.4.2011 - VI ZB 61/10, z.V.b.; BGH, Urt. v. 14.11.2007 - VIII ZR 340/06, NJW 2008, 218 Rz. 12; Beschlüsse v. 3.6.2008 - VIII ZB 101/07, WuM 2008, 614 Rz. 4 f.; v. 21.4.2010 - XII ZB 128/09, NJW-RR 2010, 934 Rz. 18).

Rz. 12

bb) Der Senat kann die Erheblichkeit der fehlenden Zulassungsentscheidung durch die Instanzgerichte im Rechtsbeschwerdeverfahren selbst prüfen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.4.2010 - XII ZB 128/09, a.a.O., Rz. 21). Diese Prüfung führt dazu, dass das Berufungsgericht die Berufung hätte zulassen müssen, weil hier unter dem Gesichtspunkt der Divergenz i.S.d. § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Fall 1 eine Zulassung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich gewesen ist. Unter diesem Gesichtspunkt hätte bereits das AG die Berufung zulassen müssen, wenn es darauf angekommen wäre, weil die Klageabweisung maßgebend auf einer Divergenz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung beruht.

Rz. 13

Die Rechtsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass das AG den vom Kläger beantragten Urkundenbeweis durch Beiziehung der Strafakten aus dem Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den Beklagten zum Beweis einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung hätte erheben müssen. Die Niederschrift der in einem Strafverfahren protokollierten Zeugenaussagen kann im Wege des Urkundenbeweises in den Zivilprozess eingeführt werden (vgl. BGH, Urt. v. 19.12.1969 - VI ZR 128/68, VersR 1970, 322 [323]; v. 19.4.1983 - VI ZR 253/81, VersR 1983, 667 [668]; v. 9.6.1992 - VI ZR 215/91, VersR 1992, 1028 [1029]). Die von einer Partei beantragte Verwertung einer Zeugenaussage aus einem anderen Verfahren im Wege des Urkundenbeweises bedarf nicht der Zustimmung des Gegners; diesem ist nur freigestellt, die Vernehmung des Zeugen vor dem Prozessgericht zu beantragen. Erfolgt ein solcher Antrag nicht oder nimmt das Gericht Abstand von einer beantragten erneuten Vernehmung vor dem Prozessgericht, darf es die von einer Partei beantragte Verwertung der Aussage als Urkundenbeweis nicht versagen (vgl. BGH, Urt. v. 19.4.1983 - VI ZR 253/81, a.a.O.; v. 9.6.1992 - VI ZR 215/91, a.a.O.). Im Streitfall ist das AG von diesen Grundsätzen abgewichen, indem es den davon abweichenden Obersatz aufgestellt hat, im Zivilprozess sei der Beweis unmittelbar herbeizuführen und ein Berufen auf die Strafakte sei nicht möglich.

Rz. 14

Unter diesen Umständen liegt eine Divergenz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung vor. Im Hinblick darauf konnte der Senat selbst aussprechen, dass die Berufung gegen das Urteil des AG zulässig ist, weil sich der hierfür maßgebliche Gesichtspunkt der Divergenz aus der Begründung des erstinstanzlichen Urteils ergibt und das AG demgemäß die Berufung hätte zulassen müssen. Auf die Höhe der Beschwer kommt es insoweit nicht an.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2692298

BB 2011, 1346

EBE/BGH 2011

NJW-RR 2011, 1079

MDR 2011, 808

NJ 2011, 5

VersR 2011, 1199

PA 2011, 137

PA 2011, 145

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