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BGH Beschluss vom 09.03.2022 - 3 StR 19/22

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Normenkette

StGB §§ 20-21

 

Verfahrensgang

LG Koblenz (Entscheidung vom 12.10.2021; Aktenzeichen 12 KLs 2070 Js 10111/20)

 

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 12. Oktober 2021 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben diejenigen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

 

Gründe

Rz. 1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen zwei Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern, jeweils in zwei tateinheitlichen Fällen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf eine Aufklärungsrüge und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

Rz. 2

I. Die Verfahrensrüge dringt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht durch. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat hinsichtlich der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler aufgedeckt.

Rz. 3

Jedoch hält die Beurteilung seiner Schuldfähigkeit revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand, weshalb sowohl die Verurteilung des Angeklagten als auch die Anordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus keinen Bestand haben. Im Einzelnen:

Rz. 4

1. Das Landgericht hat angenommen, dass der Angeklagte in zwei Fällen rechtswidrig den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176a Abs. 4 Nr. 1 in der Fassung vom 21. Januar 2015, § 53 StGB), jeweils in zwei tateinheitlichen Fällen (§ 52 StGB), verwirklichte, weil er sich am 7. Dezember 2018 und 16. Januar 2020 vor den zwölf und 13 bzw. sechs Jahre alten Geschädigten in sexueller Motivation an sein Geschlechtsteil fasste.

Rz. 5

Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten hat sich die Strafkammer auf die Ausführungen des hinzugezogenen Sachverständigen gestützt. Danach leide der Angeklagte an einer organischen Persönlichkeitsstörung im Sinne eines frühkindlichen Hirnschadens sowie einer klinisch relevanten intellektuellen Retardierung. Die intellektuelle Minderbegabung erfülle das Eingangsmerkmal der Intelligenzminderung, der frühkindliche Hirnschaden das der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB. Die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten sei nicht beeinträchtigt. Auch könne dieser grundsätzlich seine Verhaltensweisen kontrollieren; er sei im strengen Rahmen führbar. "Dennoch habe sich sein innerer Spannungsbogen brüchig gezeigt, seine Frustrationstoleranz sei reduziert ebenso wie seine Fähigkeit Copingmechanismen zu entwickeln. Sein Verhaltensmuster sei teilweise distanzgemindert. Gleichwohl zeige sich der Angeklagte aber nicht überbordend, völlig enthemmt und in der Lage, auf Ansprachen zu reagieren oder sich aus der Situation zu entfernen. Dementsprechend läge auch keine aufgehobene Steuerungsfähigkeit vor. Der Angeklagte handele zwar triebhaft, könne aber auch gezielt handeln, wie er es in dem gezielten Werfen von Gegenständen auf andere Personen gezeigt habe. Der geistigen Behinderung des Angeklagten sei aber Rechnung zu tragen und damit sei von einer sicher erheblichen Beeinträchtigung seines Steuerungsvermögens auszugehen." Dieser Einschätzung des Sachverständigen hat sich das Landgericht ohne nähere Begründung angeschlossen und angenommen, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei bei den verfahrensgegenständlichen Taten erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB gewesen.

Rz. 6

2. a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Tatgericht für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem psychiatrischen Befund wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 2. November 2021 - 1 StR 291/21, juris Rn. 13 mwN).

Rz. 7

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

Rz. 8

Aus den Ausführungen des Landgerichts ergibt sich schon nicht, aufgrund welchen biologischen Merkmals im Sinne des § 20 StGB die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten beeinträchtigt gewesen sein soll. Dem Sachverständigen folgend ist die Strafkammer davon ausgegangen, die "geistige Behinderung" des Angeklagten habe bei erhaltener Einsichtsfähigkeit zu einer sicher erheblichen Beeinträchtigung seiner Steuerungsfähigkeit geführt. Unklar bleibt dabei, ob unter "geistiger Behinderung" der frühkindliche Hirnschaden, die intellektuelle Retardierung oder beides zu verstehen ist. Insbesondere fehlt es aber an ausreichenden Feststellungen, inwieweit sich eine die biologischen Merkmale erfüllende Störung auf die Handlungsfähigkeit des Angeklagten konkret bei der Begehung der Missbrauchstaten auswirkte. Der Sachverständige hat zwar generelle Folgen der Störung für die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten benannt. Welche dieser Folgen sein Steuerungsvermögen in den Tatsituationen auf welche Weise beeinträchtigt haben soll, bleibt jedoch im Unklaren. Der konkrete Bezug zu den beiden Sexualdelikten ist in den Urteilsgründen nicht dargelegt. Die abschließende - von der Strafkammer übernommene - Wertung des Sachverständigen, der "geistigen Behinderung" sei über § 21 StGB "Rechnung zu tragen", bleibt vage. Ferner ist nicht ausreichend belegt, dass eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei den verfahrensgegenständlichen Taten erheblich wäre. Das Landgericht schließt dies aus der Aussage des Sachverständigen, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei infolge seiner "geistigen Behinderung" sicher beeinträchtigt gewesen, ohne im Rahmen einer Gesamtbetrachtung (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 11. Februar 2015 - 4 StR 498/14, NStZ-RR 2015, 137, 138) darzulegen, inwieweit diese Beeinträchtigung auch erheblich im Sinne des § 21 StGB war.

Rz. 9

3. Somit unterliegen der Schuld- und damit der Strafausspruch sowie der Maßregelausspruch der Aufhebung. Die Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten können ebenfalls nicht aufrechterhalten werden; das neue Tatgericht wird insoweit - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen - neue Feststellungen zu treffen haben. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen beruhen hingegen auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung und sind von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen insoweit sind möglich, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

Rz. 10

II. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:

Rz. 11

Sollte das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht erneut die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) in Erwägung ziehen und zur Beurteilung der Gefährlichkeitsprognose (auch) nicht verfahrensgegenständliche Taten - hier Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit in Bezug auf Mitarbeiter und andere Personen in der Behindertenwerkstätte - heranziehen wollen, wird es dazu konkrete Feststellungen, insbesondere zu den Tatzeiten und -folgen zu treffen und im Einzelnen darzulegen haben, inwieweit diese im Zusammenhang mit der Erkrankung des Angeklagten stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2021 - 1 StR 15/21, NStZ-RR 2021, 208).

Berg     

Wimmer     

Paul   

Kreicker     

Voigt     

 

Fundstellen

Haufe-Index 15178694

NStZ-RR 2022, 168

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