Leitsatz

1. Mehraufwand, der auf einer behindertengerechten Gestaltung des individuellen Wohnumfelds beruht, steht stets so stark unter dem Gebot der sich aus der Situation ergebenden Zwangsläufigkeit, dass die Erlangung eines etwaigen Gegenwerts in Anbetracht der Gesamtumstände regelmäßig in den Hintergrund tritt (Anschluss an BFH-Urteil vom 22.10.2009, VI R 7/09, BFH/NV 2010, 304, BFH/PR 2010, 92; entgegen BFH-Urteil vom 10.10.1996, III R 209/94, BFH/NV 1997, 296).

2. Es ist insbesondere nicht erforderlich, dass die Behinderung auf einem nicht vorhersehbaren Ereignis beruht und deshalb ein schnelles Handeln des Steuerpflichtigen oder seiner Angehörigen geboten ist. Auch die Frage nach zumutbaren Handlungsalternativen stellt sich in solchen Fällen nicht (Fortentwicklung von BFH-Urteil vom 22.10.2009, VI R 7/09, BFH/NV 2010, 304, BFH/PR 2010, 92).

3. Gegebenenfalls hat das FG zu der Frage, welche baulichen Maßnahmen durch die Behinderung des Steuerpflichtigen oder eines seiner Angehörigen veranlasst sind, und zur Quantifizierung der darauf entfallenden Kosten ein Sachverständigengutachten einzuholen.

 

Normenkette

§ 33, § 32a Abs. 1, § 32 Abs. 6, § 33b EStG, § 40 Abs. 4 SGB XI

 

Sachverhalt

Die Eheleute K haben drei Kinder, darunter die 1989 geborene, zu 100 % schwerbehinderte C. K erwarben für 30 000 EUR ein Haus und modernisierten es für 193 800 EUR. Es wurden u.a. Fußböden, die Elektro- und Wasserleitungen, Fenster, Türen und Dach erneuert, zwei neue Badezimmer mit bodengleichen Duschen eingebaut und die Außenmauern isoliert. C und teilweise auch ihre Großmutter nutzten eine abgetrennte Wohnfläche (Anbau) von 79 qm mit Schlafzimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Bad und Küchenzeile. Laut einem sozialmedizinischen Gutachten förderte die bodengleiche Dusche und das barrierefreie Umfeld Cs Selbstständigkeit und reduzierte den Pflegeaufwand. Die Krankenkasse bezuschusste das Badezimmer mit 2 557 EUR. K machten in der ESt-Veranlagung außergewöhnliche Belastungen (Umbaukosten für von C genutzten Wohnraum, anteilige Schuldzinsen und laufende Hauskosten) geltend. Das FA und auch das FG (FG Düsseldorf, Urteil vom 03.02.2010, 7 K 814/09 E, Haufe-Index 2538047) lehnten das ab.

 

Entscheidung

Der BFH verwies aus den unter Praxis-Hinweisen dargestellten Erwägungen die Sache an das FG zurück. Das FG wird nun zu prüfen haben, inwieweit die Baukosten jeweils behinderungsbedingt sind. Insoweit sind sie abziehbar.

 

Hinweis

1. Mehraufwand für einen behindertengerechten Um- oder Neubau kann zu außergewöhnlichen Belastungen i.S.d. § 33 Abs. 1 EStG führen. Solcher Mehraufwand, der – wie auch Krankheitskosten – aus tatsächlichen Gründen entsteht, ist insbesondere weder durch den Grund- und Kinderfreibetrag noch durch den Behinderten- und Pflege-Pauschbetrag abgegolten. Eine schwerwiegende Behinderung macht eine behindertengerechte Gestaltung des Wohnumfelds aus tatsächlichen Gründen unausweichlich und beruht nicht etwa auf frei gewählten und beliebigen Gestaltungswünschen.

2. Der VI. Senat tritt wieder den Erwägungen entgegen, dass durch solche Aufwendungen dem Steuerpflichtigen ein Gegenwert zufließe, und unterscheidet auch nicht danach, ob die Mehrkosten bei einem Neubau, bei einer Modernisierung oder bei einem Umbau entstehen. Die frühere Rechtsprechung (BFH, Urteil 10.10.1996, III R 209/94, BFH/NV 1997, 296) gibt der BFH jetzt ausdrücklich auf. Nun ist der Mehraufwand, der durch die behinderten- oder krankheitsgerechte Gestaltung eines Hauses entsteht, abziehbar, wenn eindeutig anhand objektiver Merkmale zwischen den steuerlich unerheblichen Motiven für die Errichtung und Gestaltung eines Hauses und den ausschließlich durch eine Krankheit oder Behinderung verursachten Aufwendungen zu unterscheiden ist. Regelmäßig lassen sich einzelne Gewerke und Baumaßnahmen daraufhin überprüfen, ob sie der Linderung einer Krankheit und den behinderungsbedingten Lebenserschwernissen des Steuerpflichtigen dienen. Solche Unterscheidungen sind beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (§ 40 Abs. 4 SGB XI) ständig zu treffen. Gegebenenfalls hilft ein Sachverständigengutachten. § 33 Abs. 2 S. 1 EStG, wonach Aufwendungen nur insoweit abziehbar sind, als sie einen angemessenen Betrag nicht überschreiten, steht einem übermäßigen Abzug entgegen und gewährleistet die Anrechnung von (Pflegekassen-)Zuschüssen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 24.02.2011 – VI R 16/10

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