BAG, Urteil v. 11.6.2020, 2 AZR 442/19

Leitsätze (amtlich)

Die Gerichte für Arbeitssachen haben bei einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen zu prüfen, ob die Kündigung unverzüglich i. S. d. § 174 Abs. 5 SGB IX erklärt wurde, während die Einhaltung der 2-wöchigen Antragsfrist des § 174 Abs. 2 SGB IX allein vom Integrationsamt zu beurteilen ist.

Sachverhalt

Der Kläger, einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt, arbeitete seit dem Jahr 2000 als Hausmeister bei der Beklagten. Während der Arbeit nutzen der Kläger und ein Arbeitskollege tragbare und ihnen jeweils zugeordnete Telefone, deren Ladestationen sich im Hausmeisterraum befanden. Im Januar 2018 stellte die Beklagte bei der jährlichen Kontrolle ihrer Telefonrechnungen Unregelmäßigkeiten fest, insbesondere dass über die Nebenstellennummern des Klägers und seines Kollegen in der Zeit vom 26.6.2017 bis einschließlich 9.8.2017 insgesamt 2.756 Mal kostenpflichtig die Rufnummer einer Glücksspiel-Hotline gewählt worden sei. Nach Beendigung einer insgesamt 2-wöchigen krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit wurde der Kläger am 13. und 14.3.2018 ebenso wie sein Kollege zu dem Vorwurf angehört. Mit Schreiben vom 16.3.2018 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Tat- und hilfsweise zur außerordentlichen Verdachtskündigung. Am 4.4.2018 bestätigte ihr das Integrationsamt den Eintritt der Fiktion gem. § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.

Die Beklagte hörte mit Schreiben vom selben Tag den bei ihr bestehenden Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung an. Dieser äußerte in einer abschließenden Stellungnahme am 9.4.2018 Bedenken. Ebenfalls mit Schreiben vom 4.4.2018 wurde die Schwerbehindertenvertretung angehört, die jedoch die beabsichtigte Kündigung ohne Stellungnahme zur Kenntnis nahm. Die Beklagte kündigte daraufhin dem Kläger mit Schreiben vom 10.4.2018 außerordentlich fristlos. Daneben machte sie Forderungen für die mit der Glücksspiel-Hotline geführten Telefonate gegenüber dem Kläger geltend. Dieser hatte dagegen die Auffassung vertreten, die Kündigung sei unwirksam, da kein wichtiger Grund vorliege und zudem die 2-Wochen-Frist nicht eingehalten worden sei.

Die Entscheidung

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Auf die Revision der Beklagten hob das BAG die Entscheidung des LAG auf und wies die Sache an dieses zurück; denn mit der gegebenen Begründung durfte das LAG die Berufung der Beklagten nicht zurückweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung aufgelöst worden war und der Beklagten ein Zahlungsanspruch gegen den Kläger zusteht, konnte der Senat jedoch nicht abschließend entscheiden.

Zunächst führte das BAG aus, dass das LAG rechtsfehlerhaft angenommen habe, die von der Beklagten ausgesprochene außerordentliche Kündigung erweise sich wegen Versäumung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB als unwirksam; denn die Beklagte hatte die außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung der für schwerbehinderte Menschen und ihnen Gleichgestellte geltenden Regelung in § 174 Abs. 5 SGB IX rechtzeitig erklärt, da hiernach die außerordentliche Kündigung auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erfolgen könne, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt erklärt werde. Und diese Kündigungserklärungsfrist habe die Beklagte nach Auffassung des Gerichts gewahrt, insbesondere sei der Ausspruch der Kündigung unverzüglich i. S. v. § 174 Abs. 5 SGB IX nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt erfolgt. Das BAG führte hierzu aus, dass das Integrationsamt vorliegend zwar keine ausdrückliche Entscheidung über den Antrag der Beklagten auf Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Klägers getroffen hatte, sondern der Beklagten am 4.4.2018 bestätigte, dass die Fiktionswirkung des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX eingetreten sei. Dies sei jedoch ausreichend. Daraufhin hatte die Beklagte dann auch noch am selben Tag den bei ihr bestehenden Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung angehört und nach dessen Stellungnahme am 10. April gekündigt.

Das Gericht entschied insoweit, dass die Regelung in § 174 Abs. 5 SGB IX nicht dahingehend teleologisch zu reduzieren sei, dass sie nur Anwendung finden solle, wenn der Arbeitgeber die nach § 174 Abs. 1 i. V. m. § 168 SGB IX erforderliche Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB beantragt hatte. Das könne – entgegen der bisherigen Rechtsprechung, die von einer "Ausdehnung" der Frist des § 626 Abs. 2 BGB (vgl. BAG, Urteil v. 2.3.2006, 2 AZR 46/05) bzw. einem "Aufschieben" ihres Ablaufs (vgl. BAG, Urteil v. 24.11.2011, 2 AZR 429/10) ausgegangen ist, nicht angenommen werden. Der Senat hält insoweit an seiner Rechtsprechung nicht mehr fest.

Vorliegend habe die Beklagte die Zustimmung des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung nach § 174 Abs. 2 SGB IX auch rechtzeitig beantragt. Hiervon h...

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