Entscheidungsstichwort (Thema)

Organisation der Familienkassen im Bereich Inkasso

 

Leitsatz (redaktionell)

Das Demokratieprinzip erfordert eine klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten und verbietet das Tätigwerden einer anderen Behörde (Agentur für Arbeit Recklinghausen mit seinem Inkasso-Personal oder dem Personal einer anderen Familienkasse) unter dem Briefkopf einer anderen Behörde (nämlich der materiell zuständigen Behörde). Gleichwohl in dieser Weise erlassene Bescheide stammen von der unzuständigen Behörde und sind aufzuheben.

 

Normenkette

FVG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 11

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die zuständige Behörde den Erlassantrag der Klägerin zutreffend als unbegründet abgelehnt hat.

Die Klägerin hatte u.a. für die Zeiträume von Februar 2016 bis Dezember 2016 und Februar 2018 bis Juni 2019 für ihren Sohn X Kindergeld erhalten. Die Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau (ab September 2015) wurde vom Ausbildungsbetrieb im Januar 2016 fristlos gekündigt. Die Klägerin teilte dies der Familienkasse nicht mit. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2016 auf. Der Rückforderungsbescheid (2.156 €) wurde bestandskräftig. Eine weitere Ausbildung begann der Sohn zum 1. August 2017. Mit dem Betrieb schloss der Sohn im Januar 2018 einen Aufhebungsvertrag. Die Klägerin teilte dies der Familienkasse nicht mit. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2018 auf und forderte das überzahlte Kindergeld (3.298 €) von der Klägerin zurück. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos (Einspruchsbescheid vom 6. Dezember 2019). Die Bescheide wurden bestandskräftig. Die Klägerin erbrachte ab Dezember 2017 monatliche Ratenzahlungen à 50 € auf die beiden Rückforderungsbeträge.

Die Agentur für Arbeit Recklinghausen – Inkasso Service Familienkasse bestätigte der Klägerin unter dem 26. August 2020 deren Angebot, weiterhin 50 € Raten auf die rückständige Gesamtforderung von 4.402,50 € zahlen zu können.

Im September 2021 beantragte der jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Änderung der Kindergeldfestsetzung bezüglich des Rückforderungsbescheides über 3.298 € und den Erlass des zurückgeforderten Kindergeldes.

Unter dem 24. September 2021 übersandte die Beklagte (Familienkasse Niedersachsen-Bremen) den Erlassantrag der Klägerin der „Familienkasse Inkasso” in Recklinghausen „zur Kenntnis und weiteren Veranlassung”.

Mit Schreiben vom 19. Oktober 2021 forderte die „Agentur für Arbeit Recklinghausen – Inkasso-Service Familienkasse” bei der „Familienkasse Niedersachsen-Bremen” konkrete Angaben zur Entstehung der Forderung. Die Familienkasse Niedersachsen-Bremen beantwortete die Anfrage unter dem 26. Oktober 2021 und übersandte den Rückforderungsbescheid sowie den Einspruchsbescheid.

Die „Familienkasse-Inkasso”, handelnd durch den Sachbearbeiter „Herrn A” (jetzt „B”), der nach Angaben der Beklagten bei der Agentur für Arbeit Bad-Hersfeld-Fulda (Hessen) seinen originären Dienstsitz habe, lehnte mit Bescheid vom 8. November 2021 den Erlassantrag der Klägerin ab. Der Bescheid enthielt folgende Angaben zu der Behörde, die die Entscheidung getroffen hatte:

[Briefkopf:]

Familienkasse Niedersachsen-Bremen

Familienkasse – Inkasso

Mein Zeichen:

6805003772128

Name:

Herr A

E-Mail:

Familienkasse-Inkasso @arbeitsagentur.de

[Absender für Fensterumschlag:]

Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse Niedersachsen-Bremen 30131 Hannover

[Fußzeile der ersten Seite (Auszug):]

Familienkasse Niedersachsen-Bremen30131 Hannover

[Rechtsbehelfsbelehrung (Auszug):]

… Der Einspruch ist bei der im Briefkopf angegebenen Familienkasse – Rechtsangelegenheiten schriftlich einzureichen oder dort zur Niederschrift zu erklären oder an Familienkasse-Inkasso-Rechtsbehelf@arbeitsagentur.de elektronisch zu übermitteln. …

[Unterschrift:]

A

Der Bescheid wurde nach Aktenlage von dem Sachbearbeiter nicht der Familienkasse Niedersachsen-Bremen zu deren Kindergeldakte übersandt.

Gegen den Ablehnungsbescheid wandte sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter der angegebenen E-Mail-Adresse mit dem Einspruch. Parallel sandte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Einspruch an die angegebene Postanschrift.

Der handelnde Sachbearbeiter des Inkasso Service („B” – früher „A”) gab den Einspruch an die „Teams für Rechtsangelegenheiten in der FamKa NRW Nord” ab. Den per Briefpost in Hannover eingegangenen Einspruch übersandt die „Familienkasse Niedersachsen-Bremen” der „Familienkasse Inkasso” unter der Anschrift in Recklinghausen „zur Kenntnis und weiteren Veranlassung” per Briefpost.

Der frühere Sachbearbeiter (B/A) fragte im März bei der „Familienkasse NRW-Nord” – nämlich bei der zuständigen Rechtsbehelfsbearbeiterin „C” – nach dem Sachstand des Einspruchsverfahrens. Unter dem 19. Mai 2022 übersandte Frau C „meine Einspruchsentscheidung” dem Sachbearbeiter bei der „Familienkasse-Inkasso” zur Kenntnisnahme.

Am gleichen Tag (19. Mai 2022) sandte Frau C den Einspruchsbescheid unter dem Briefkopf „Familienkasse Niedersachsen-Bremen” aber im Rubr...

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