Vier-Tage-Woche in der Steuerkanzlei

Steuerberater Andreas Schollmeier erzählt im Interview, warum in seiner Kanzlei die 4-Tage-Woche zur Regel erklärt wurde und warum dieses Arbeitsmodell in Steuerkanzleien gut funktionieren kann.

Herr Schollmeier, in Ihrer Kanzlei beginnt das Wochenende für Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seit Juli 2022 jede Woche schon am Donnerstagabend. Wie kam es dazu?

Seitdem ich 2019 die Kanzlei übernommen habe, ist viel passiert. Ich habe damals mit vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gestartet. Jetzt beschäftige ich 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dazu kamen externe Faktoren wie die Coronaviruspandemie, der Krieg in der Ukraine und die vielen Gesetzesänderungen, die uns in den vergangenen Jahren beschäftigt haben. Ich würde mich als stressresistenten Menschen bezeichnen, aber die Summe dieser ganzen Herausforderungen hat nicht nur mich, sondern mein ganzes Team an Grenzen gebracht. Ich habe mich also schon längere Zeit damit beschäftigt, wie ich bei mir und vor allem meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Stressfaktoren reduzieren kann.

Andreas Schollmeier

Ist der Schritt hin zur Arbeitszeitverkürzung nicht etwas radikal, um die Mitarbeiterzufriedenheit zu verbessern?

Ich konnte mir das, als ich von den ersten Beispielen aus anderen Ländern zur Arbeitszeitverkürzung gelesen hatte, zunächst auch nicht vorstellen. Aber es gibt mittlerweile sogar Studien, die zeigen, dass die Produktivität nicht unter einer verkürzten Arbeitszeit leidet. Das kann ich bis jetzt aus unserem Arbeitsalltag bestätigen. Ich würde sogar sagen, dass unsere Branche geradezu prädestiniert ist für eine 4-Tage-Woche.


Die 4-Tage-Woche und das Arbeiten in einem digitalen Arbeitsumfeld könnten einen erheblichen Teil dazu beitragen, dass mehr junge Leute sich für einen Beruf in der Steuerbranche entscheiden.


Wieso passt die 4-Tage-Woche zur Steuerbranche?

Es gibt in vielen Kanzleien Digitalisierungspotenziale. Man kann unfassbar viel Zeit einsparen, wenn man damit beginnt, Prozesse zu optimieren. Und durch die Arbeitszeitverkürzung beginnen die Mitarbeiter von selbst, die eigene Arbeitsweise zu optimieren.
Außerdem muss unsere Branche attraktiver für Fachkräfte werden. Die 4-Tage-Woche und das Arbeiten in einem digitalen Arbeitsumfeld könnten einen erheblichen Teil dazu beitragen, dass mehr junge Leute sich für einen Beruf in der Steuerbranche entscheiden.

Haben Ihre Mandantinnen und Mandanten nie das Bedürfnis, Ihre Kanzlei freitags zu erreichen?

Wir betreuen 700 Mandanten. An dem ersten Freitag, an dem unsere Kanzlei geschlossen war, kamen fünf Anrufe von Mandanten rein. Vier Anrufe konnten wir auf Montag verschieben, weil sie nicht dringlich waren, einen Anruf habe ich entgegengenommen. Außerdem können die Mandanten bei uns auf viele Informationen online zurückgreifen. Grundsätzlich finde ich es wichtig, dass wir in unserer Branche wegkommen von der Anspruchshaltung, dass alles immer sofort erledigt werden muss. Nicht jede Angelegenheit muss innerhalb von drei Stunden erledigt werden. Manche Anliegen von Mandanten können am Freitag auch bis Montag warten. 

Sie haben die Arbeitszeit von 40 auf 36 Stunden gekürzt. Bei einer Viertagewoche sind das 9 Stunden Arbeit pro Tag. Ist das machbar?

Wir haben vor dieser Verkürzung immer von Montag bis Donnerstag achteinhalb Stunden gearbeitet und Freitag dementsprechend kürzer. Deshalb schien mir diese Variante mit einer halben Stunde mehr Arbeit an den vier Tagen am praktikabelsten. Mein Team hat mir zurückgemeldet, dass diese halbe Stunde nicht ins Gewicht fällt und sich in der eigenen Tagesplanung kaum bemerkbar macht.


In der Kanzlei von Erich Erichsen hat die 25-Stunden-Woche die klassische 40-Stunden-Woche abgelöst. Warum er sich zu diesem Schritt entschieden hat und was die neue Arbeitswoche für sein Team bedeutet, erklärt der Kanzleiinhaber im Interview.  


Sie sind seit 2019 Kanzleiinhaber. Der „alte“ Kanzleiinhaber arbeitet auch noch in der Kanzlei. Wie hat er reagiert, als Sie die Viertagewoche verkündet haben?

Er hat mir zu dieser Entscheidung gratuliert. Wir beide haben ein sehr gutes Verhältnis. Er hatte von Anfang an kein Problem damit, die Führung abzugeben und hat mich bei all meinen Vorhaben immer unterstützt. Er konnte gut loslassen und hat mir dadurch die Gelegenheit gegeben, die Kanzlei nach meinen Vorstellungen fortzuführen.

Wie haben Ihre Kolleginnen und Kollegen und Ihr Umfeld auf diese Entscheidung reagiert?

Privat und an unserem Standort in Moers werde ich von allen Seiten auf unsere Viertagewoche angesprochen. Das Interesse ist sehr groß. Von Menschen unserer Stadt, Unternehmern oder anderen Kanzleiinhabern wurde ich zu der Entscheidung beglückwünscht. Manch ein Arbeitgeber möchte mir allerdings dabei auch direkt erklären, warum diese Arbeitsweise in seinem Unternehmen nicht funktionieren würde. Deren Argumente sind für mich jedoch oft nicht überzeugend. Wenn man die Viertagewoche möchte, bekommt man sie hin – auch in einem größeren Unternehmen.


Es kamen in einer Woche mehr Bewerbungen rein als in den vergangenen drei Jahren.


Gab es noch mehr Rückmeldungen?

Ich habe sehr viele Bewerbungen erhalten. Es kamen in einer Woche mehr Bewerbungen rein als in den vergangenen drei Jahren. Und weil ich im Zuge der Arbeitszeitverkürzung eine neue Stelle schaffen möchte, kamen mir diese Bewerbungen sehr gelegen. Ich bin jetzt in der Luxussituation, dass ich mich zwischen mehreren Top-Bewerbungen entscheiden muss.

Was sind Ihre Tipps für Steuerberater, die ihre Kanzleiorganisation verändern wollen und über eine Arbeitszeitverkürzung nachdenken?

An der digitalen Transformation führt für diese Kanzleien kein Weg vorbei. Wer radikal digitalisiert und Prozesse effizient gestaltet, kann Zeit einsparen und seinen Mitarbeitern spannendere Aufgaben geben. Generell sollte man den Kanzleimitarbeitern vertrauen und ihnen Verantwortung geben, so dass sie ständig weiterkommen und Neues lernen. Wir arbeiten nicht in der Viertagewoche, weil wir faul sind, sondern weil wir produktiv arbeiten.

Hand aufs Herz: Arbeiten Sie als Kanzleiinhaber nun auch „nur“ vier Tage?

Mein Freitag ist jetzt das, was vor der Viertagewoche mein Samstag war. Ich habe den Freitag für mich und kann in Ruhe die Arbeit erledigen, die unter der Woche liegengeblieben ist oder ich gehe strategische Fragen an. Das ist für mich ein Riesengewinn.


Zur Person

Andreas Schollmeier ist Steuerberater und seit 2019 Inhaber einer Steuerkanzlei in Moers, Nordrhein-Westfalen, mit 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.