Entscheidungsstichwort (Thema)

Abzug von Kirchenbeiträgen als Sonderausgaben

 

Leitsatz (amtlich)

Die Entscheidung über den Abzug von Kirchenbeiträgen nach R 101 Abs. 1 EStR 1993 ist eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO 1977.

 

Normenkette

EStG § 10 Abs. 1 Nr. 4, § 51a Abs. 2; AO 1977 § 163; EStR 1993 R 101 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Münster (EFG 2000, 1116)

 

Tatbestand

I. Streitig ist der Abzug von Kirchenbeiträgen. Die Klägerin und Revisionsbeklagte zu 1 (Klägerin) und ihr Ende 1996 verstorbener Ehemann sind bzw. waren Mitglieder der freien evangelischen Gemeinde A, die dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, angehört. Alleinerbe des Ehemanns ist der Kläger und Revisionsbeklagte zu 2 (Kläger).

Die Eheleute zahlten im Jahr 1994 für kirchliche Zwecke an die Kirchengemeinde einen Betrag von 90 600 DM. Darüber hinaus leisteten sie Spenden an eine Reihe anderer gemeinnütziger Einrichtungen in Höhe von 132 360 DM.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) setzte mit Bescheid vom 13. Februar 1996 die Einkommensteuer auf 810 011 DM fest. Einen Teilbetrag von 32 467 DM (9 % des Einkommensteuer-Vorauszahlungssolls von 360 741 DM) berücksichtigte das FA als "gezahlte Kirchensteuer" und den Restbetrag als Spende gemäß § 10b des Einkommensteuergesetzes (EStG). Die Eheleute erhoben Einspruch (Schreiben vom 1. März 1996). Mit Schreiben vom 28. Mai 1996 ging das FA davon aus, dass der Einspruch gegen die mit der Steuerfestsetzung verbundene Billigkeitsmaßnahme bzw. deren teilweise Ablehnung erhoben worden sei. Mit Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 1996 entschied das FA über eine "Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO zur Einkommensteuer 1994" und berücksichtigte Kirchenbeiträge in Höhe von 47 792 DM (9 % der festgesetzten Einkommensteuer lt. Vorauszahlungsbescheid in Höhe von 503 319 DM zzgl. der angepassten Einkommensteuer-Vorauszahlung 1993 in Höhe von 23 932 DM und der Abschlusszahlung 1992 in Höhe von 3 765 DM). Den weiter gehenden Einspruch wies das FA unter Hinweis auf R 101 Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien 1993 (EStR) mit der Begründung zurück, dass eine Besserstellung der Mitglieder von Freikirchen nicht beabsichtigt sei. In dem geänderten Bescheid vom 14. August 1996 setzte das FA die Einkommensteuer auf 802 053 DM fest.

Die Eheleute erhoben Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 1994 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 1996 und machten den Bescheid vom 14. August 1996 zum Gegenstand des Verfahrens. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage "wegen Einkommensteuer 1994" im Wesentlichen statt und vertrat die Auffassung, dass ein Betrag von 9 % der festgesetzten Steuer von 802 053 DM gleich 72 185 DM als Kirchensteuer absetzbar sei. Das FG übertrug die Berechnung der Einkommensteuer dem FA. Die Entscheidung des FG ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 1116.

Mit der Revision macht das FA geltend:

1. Das FG habe nicht über eine Billigkeitsmaßnahme entschieden, die bereits mit der Steuerfestsetzung im Bescheid vom 13. Februar 1996 verbunden worden und ausdrücklich Gegenstand der Einspruchsentscheidung gewesen sei, sondern über die Einkommensteuer. Insofern fehle es an einem Vorverfahren. Das FG-Urteil sei wegen Einkommensteuer 1994 ergangen und regele direkt die Änderung der Einkommensteuer.

2. Die Berechnung des FG entspreche nicht der Richtlinienregelung. Der Höchstbetrag dürfe nicht von der zunächst ohne Abzug von Kirchenbeiträgen festzusetzenden Einkommensteuer berechnet werden. Nach Abzug sei die Einkommensteuer entsprechend niedriger und würde nur einen geringeren Abzug erlauben. Es sei ―ähnlich wie bei der Gewerbesteuer― eine Näherungsrechnung vorzunehmen.

Nach dem Urteil solle ein Betrag von 72 185 DM wie Kirchensteuer abziehbar sein. Richtig wäre aber ein Betrag von 71 072 DM; der als Kirchensteuer abziehbare Betrag und der Steuerbetrag selbst wären identisch. Bei Abzug eines Betrags von 72 185 DM wäre die Einkommensteuer auf 789 117 DM festzusetzen und damit um 572 DM zu niedrig.

Das FA beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und ―hilfsweise― die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

1. Streitgegenstand sei die Einkommensteuer 1994. Eine selbständige Billigkeitsmaßnahme würde einen gesonderten Verwaltungsakt erfordern; es liege jedoch nur der angefochtene Einkommensteuerbescheid vom 13. Februar 1996 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 24. Juni 1996 vor.

2. Die Ausführungen des FA seien nicht recht verständlich. Die sachverhaltlichen Voraussetzungen für die Anwendung der Anweisung R 101 Abs. 1 EStR seien unstreitig gegeben. Die Berechnungen des FG seien zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet; sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Verpflichtung des FA, den Bescheid nach § 163 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nach Maßgabe der nachstehenden Gründe zu ändern. Das FG hat den als Kirchenbeitrag abziehbaren Betrag fehlerhaft berechnet.

1. Die Vorentscheidung ist nicht wegen fehlender Durchführung eines Vorverfahrens aufzuheben. Im Wege der Auslegung des Klagebegehrens und unter Gewährung eines möglichst weitgehenden und angemessenen Rechtsschutzes ist davon auszugehen, dass die Kläger die vom FA gemäß § 163 Satz 1 AO 1977 erlassene Billigkeitsentscheidung anfechten wollten. Dies wird deutlich aus ihrem Klageantrag, der ausdrücklich auf die ergangene Einspruchsentscheidung Bezug nimmt; auch das FG hat in den Entscheidungsgründen selbst hervorgehoben, dass die Regelung R 101 EStR und damit auch der (begrenzte) Abzug von Kirchenbeiträgen im Einkommensteuerbescheid vom 13. Februar 1996 eine nach § 163 Satz 1 AO 1977 ergangene Billigkeitsregelung sei. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass auch das FG ―trotz anderslautenden Rubrums― über diesen Gegenstand entschieden hat. Die Auffassung des FA, dass ein Vorverfahren nicht durchgeführt worden sei, trifft demnach nicht zu.

2. a) Die begehrte abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung (vgl. Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 163 AO 1977 Tz. 10), die gemäß § 102 FGO nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch die FG unterliegt. Das Gericht darf die angegriffene Ermessensentscheidung nur auf Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung, Ermessensfehlgebrauch prüfen. Stellt es hierbei eine Ermessensüberschreitung oder einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur in den Fällen der sog. Ermessensreduzierung auf Null ist das Gericht befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen (vgl. Tipke/ Kruse, a.a.O., § 102 FGO Tz. 1, § 5 AO 1977 Tz. 76).

b) Nach § 163 Satz 1 1. Alternative AO 1977 können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre (zum Verhältnis von Steuerfestsetzungen und abweichender Festsetzung nach § 163 AO 1977 vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 163 AO 1977 Tz. 20). In Anwendung dieser Vorschrift können die Finanzbehörden allgemeine Regelungen über die nach § 163 AO 1977 vorzunehmende Ermessensausübung aufstellen (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO 1977 Tz. 36 f.). Diese Richtlinien sind auch von den Gerichten zu beachten, wenn sich die in ihnen getroffenen Regelungen in den Grenzen halten, die das Grundgesetz (GG) und die einfachen Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen. Im Falle von begünstigenden Regelungen für einen bestimmten Personenkreis ergibt sich zudem eine Bindungswirkung für die Gerichte aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 15. November 1991 III R 30/88, BFHE 166, 159, BStBl II 1992, 179).

c) Die Finanzverwaltung hat in R 101 Abs. 1 EStR, die der Sache nach bereits auf § 17 Abs. 1 Nr. 5 Satz 2 EStG 1925 zurückgeht, im Einzelnen dargelegt, dass Beiträge der Mitglieder von Religionsgemeinschaften, die mindestens in einem Land als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt sind, aber während des ganzen Jahres keine Kirchensteuer erheben, wie Kirchensteuern abgezogen werden können. Nach R 101 Abs. 1 Satz 3 EStR ist der Abzug bis zur Höhe der Kirchensteuer zulässig, die in dem betreffenden Land unter Berücksichtigung der Kinderermäßigung von den als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannten Religionsgemeinschaften erhoben wird. Der Senat sieht in der Regelung R 101 Abs. 1 EStR ―insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der steuerlichen Gleichbehandlung― eine Ermessensreduzierung auf Null, soweit es um die Frage geht, ob die Einkommensteuer nach § 163 Satz 1 1. Alternative AO 1977 aus Billigkeitsgründen niedriger festzusetzen ist; bei Vorliegen der Voraussetzungen der Anweisung R 101 Abs. 1 EStR muss eine Billigkeitsmaßnahme zwingend vorgenommen werden. Entgegen der Auffassung von Söhn in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Einkommensteuergesetz, § 10 Rdnr. G 22) hält der Senat R 101 Abs. 1 EStR nicht für rechtswidrig, sondern für eine norminterpretierende und ermessensregulierende Verwaltungsvorschrift zur Abgrenzung von § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG gegenüber § 10b Abs. 1 EStG beim Abzug von Kirchenbeiträgen. Kirchenbeiträge, die unter den Voraussetzungen der Anweisung R 101 EStR gezahlt werden, sind zwar keine Kirchensteuern; sie sind aber von ihrer Art her den Kirchensteuern ähnlich und unterscheiden sich lediglich durch das Erhebungsverfahren. Soweit auf den Zwangscharakter der Kirchensteuer abgestellt wird, ist dem entgegenzuhalten, dass ―im Unterschied zu anderen Steuern― der Zahlung von Kirchensteuer durch den Austritt aus der Religionsgemeinschaft ausgewichen werden kann.

d) Gemäß R 101 Abs. 1 Satz 3 EStR ist der Abzug bis zur Höhe der in dem jeweiligen Bundesland erhobenen Kirchensteuer ―unter Berücksichtigung der Kinderermäßigung― zulässig. Maßgeblich sind die tatsächlich gezahlten Kirchenbeiträge. Im Unterschied zur Kirchensteuer werden Kirchenbeiträge nicht festgesetzt; für ihren Abzug gilt ausschließlich das Zahlungsprinzip (vgl. allgemein Söhn, a.a.O., § 10 Rdnr. G 26 ff.). Abziehbar sind sie im Streitfall bis zur Höhe von 9 % der festzusetzenden Einkommensteuer (vgl. § 51a Abs. 1 und 2 EStG).

Allerdings hält der Senat die Einwendungen des FA gegen die Berechnung der abziehbaren Kirchenbeiträge für berechtigt; das FA weist zu Recht darauf hin, dass im Streitfall die Begrenzung des Abzugsbetrags nach der Gleichung "zvE vor KiB-Abzug ./. zvE nach KiB-Abzug = EStG auf zvE nach KiB-Abzug x 9%" zu ermitteln ist. Der abgezogene Betrag muss mit dem abziehbaren Betrag identisch sein. Die Differenz zwischen dem zu versteuernden Einkommen vor und nach dem Abzug der Kirchenbeiträge muss dem Betrag von 9 % der festgesetzten Einkommensteuer entsprechen. Im Streitfall bedeutet dies, dass ein Betrag von 71 072 DM abziehbar ist.

3. Dem (begrenzten) Abzug der Kirchenbeiträge steht die Entscheidung vom 19. August 1969 VI R 261/67 (BFHE 96, 458, BStBl II 1970, 11) nicht entgegen. In diesem Fall war nicht über den Abzug von Kirchenbeiträgen im Billigkeitsweg zu entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 673029

BFH/NV 2002, 409

BStBl II 2002, 201

BFHE 196, 572

BFHE 2002, 572

BB 2002, 399

DStRE 2002, 281

HFR 2002, 305

StE 2002, 91

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