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BVerfG Beschluss vom 27.04.2001 - 1 BvR 1282/99

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in gesetzlicher Krankenversicherung

 

Beteiligte

Rechtsanwälte Petersen – Becker – Ziegenbein

 

Verfahrensgang

BSG (Zwischenurteil vom 09.06.1999; Aktenzeichen B 6 KA 1/99 B)

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 09.09.1998; Aktenzeichen L 4 Ka 9/98)

SG Kiel (Urteil vom 05.11.1997; Aktenzeichen S 14 Ka 363/96)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Nach der Entscheidung des Senats vom 20. März 2001 – 1 BvR 491/96 – sowie der Änderung von § 101 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) durch das Zweite Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2. GKV-NOG) vom 23. Juni 1997 (BGBl I S. 1520) hat die Verfassungsbeschwerde keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung mehr. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der von dem Beschwerdeführer als verletzt gerügten Rechte angezeigt. Für eine Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten ist nichts ersichtlich. Die angegriffenen Entscheidungen entsprechen der fachgerichtlichen Rechtsprechung, die inzwischen näher konkretisiert hat, welchen Anforderungen Verwaltungsbehörden genügen müssen, um Entscheidungen betreffend die Feststellung eines Sonderbedarfs zu überprüfen (vgl. BSGE 82, 41 ff.; BSG, Urteile vom 28. Juni 2000 – B 6 KA 35/99 R –, SozR 3-2500 § 101 Nr. 5 und – B 6 KA 27/99 R –, ZfS, S. 314; vgl. hierzu Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 1996 – 1 BvL 3/95 –, MedR 1997, S. 77).

Das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) ist nicht berührt, solange sich der Beschwerdeführer in jedem Ort der Bundesrepublik als Arzt niederlassen kann. Die Teilhabe an der vertragsärztlichen Versorgung steht unter vielfältigen Maßgaben, die als Regelungen der Berufsausübung am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen sind. Die angegriffene Einschränkung hält dieser Prüfung stand.

1. Durch die vom Beschwerdeführer mittelbar angegriffenen Regelungen der Zulassungsbeschränkungen bei Überversorgung gemäß §§ 99 ff. SGB V in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S. 2266) ist das für die Vertragsärzte maßgebliche Berufsrecht insofern umgestaltet worden, als der Zugang zu diesem Betätigungsfeld für Ärzte örtliche Einschränkungen erfährt. Diese Umgestaltung berührt sowohl für wechselwillige als auch für angehende Vertragsärzte das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.

a) Eine Bewertung als Berufswahlregelung erscheint eher fern liegend, wenn die angegriffenen Zulassungsbeschränkungen dahin verstanden werden, dass den approbierten Ärzten typischerweise hierdurch nur eine Zulassungschance in irgendeinem Planungsbezirk vorgegeben wird, in dem sie sich für eine Niederlassung als Vertragsarzt, nicht etwa als Arzt schlechthin, entscheiden müssen (vgl. BSGE 82, 41 ≪43 ff.≫).

b) Die rechtliche Einordnung der Maßnahme bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, weil dem Gesetzgeber legitime Gemeinwohlgründe von überragender Bedeutung bei der Ausgestaltung des Berufsrechts der ärztlichen Leistungserbringer im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung zur Seite stehen, die auch eine Berufswahlregelung rechtfertigen. Die Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Gemeinwohlbelang von hinreichendem Gewicht. Auch im Übrigen sind die Anforderungen an Zulassungsbeschränkungen erfüllt. Neben der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, die das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als besonders wichtiges Gemeinschaftsgut bezeichnet hat (vgl. BVerfGE 78, 179 ≪192≫), hat gerade im Gesundheitswesen der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht. Die Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ist für das Gemeinwohl anerkanntermaßen von hoher Bedeutung (vgl. BVerfGE 70, 1 ≪30≫; 82, 209 ≪230≫). Soll die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mit Hilfe eines Sozialversicherungssystems erreicht werden, stellt auch dessen Finanzierbarkeit einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang dar, von dem sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Systems und bei der damit verbundenen Steuerung des Verhaltens der Leistungserbringer leiten lassen darf (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 20. März 2001 – 1 BvR 491/96 –, S. 21 des Beschlussumdrucks – im Internet unter der Adresse „http://www.bundesverfassungsgericht.de” eingestellt, zur Veröffentlichung in BVerfGE vorgesehen).

2. Der Gesetzgeber hat den ihm bei der Festlegung und Ausgestaltung sozialpolitischer Ziele eingeräumten Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfGE 77, 308 ≪332≫) vorliegend nicht überschritten. Soweit er die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung durch die gesetzliche Krankenversicherung zu gewährleisten sucht, muss er hierbei unterschiedliche Gemeinwohlbelange und – zum Teil gegenläufige – Grundrechtspositionen vieler Personengruppen miteinander zum Ausgleich bringen (vgl. Beschluss des Ersten Senats vom 20. März 2001, a.a.O., S. 21 ff. des Beschlussumdrucks mit der Darstellung der Belastungen in allen Bereichen). Der Gesetzgeber hat bei der Verfolgung seines Gesamtziels in den letzten Jahrzehnten alle am System Beteiligten in die Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung eingebunden. Auch dieses Streben nach einer ausgewogenen Lastenverteilung gehört zu den vom Gesetzgeber legitimerweise definierten Zielen einer strukturellen Ausgewogenheit. Der Gesetzgeber durfte zum Erhalt der Funktionsfähigkeit der kassenärztlichen Versorgung zulassungssteuernde Regelungen bei Überversorgung erlassen.

a) Zulassungsbeschränkungen der beanstandeten Art sind grundsätzlich geeignet, zur finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung beizutragen. Betroffen von §§ 99 ff. SGB V und §§ 12 ff. Ärzte-ZV sind mit dem Beschwerdeführer die Gruppen der wechselwilligen zugelassenen und die erstmals zulassungswilligen Ärzte. Sie können unter Umständen zwar nicht im Planungsbereich ihrer Wahl, aber immerhin in anderen, nicht gesperrten Bereichen zugelassen werden. Der Gesetzgeber hat ab 1. Juli 1997 sogar wieder dafür gesorgt, dass in jedem Falle Zulassungschancen eröffnet bleiben (vgl. § 101 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB V i.d.F. des Art. 1 Nr. 35 Buchstabe b 2. GKV-NOG). Der Gesetzgeber durfte sich besondere wirtschaftliche Einsparungen davon verprechen, Zulassungsbeschränkungen bei Überversorgung vorzusehen. Er konnte sich dabei auf plausible Annahmen stützen. Unter Hinweis auf eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen hat der Gesetzgeber auf das „Phänomen der angebotsinduzierten Nachfrage” (BTDrucks 12/3608, S. 98) hingewiesen, wonach Ärzte in überversorgten Gebieten sich veranlasst sehen könnten, die infolge geringerer Patientenzahlen je Arzt drohenden Einkommenseinbußen durch eine Ausweitung ihres Leistungsvolumens je Patient auszugleichen. Dieser Gesichtspunkt ist von besonderer Bedeutung, weil der Vertragsarzt zugleich Sachwalter der Kassenfinanzen insgesamt ist (vgl. Beschluss des Ersten Senats vom 20. März 2001, a.a.O., S. 31 des Beschlussumdrucks). Befugnis und Verpflichtung zu wirtschaftlicher Verwaltung der Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung sind den Vertragsärzten überantwortet. Sie entscheiden über die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Heilbehandlung.

b) Der Gesetzgeber konnte die Gesamtheit der von ihm verfolgten Ziele nicht mit einem die Belange des Beschwerdeführers weniger beeinträchtigenden Mittel erreichen. Mildere, aber für die zulassungswillige Personengruppe der Ärzte gleich wirksame Berufsregelungen sind nicht ersichtlich. Änderungen in der Vergütungsstruktur und der Höhe der Vergütung oder schärfere Kontrollen des Verordnungs- und Abrechnungsverhaltens wären insoweit keine tauglichen milderen Mittel gewesen.

c) Die Zulassungsbeschränkungen wahren auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Die örtlich geltenden Zulassungsbegrenzungen betreffen die Ärzte nicht empfindlich. Sie können grundsätzlich frei über die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung entscheiden, im Hinblick auf den Kassenarztsitz allerdings nur, soweit keine Zulassungssperren angeordnet sind. Den Betroffenen wird weder die Aufnahme oder die Fortführung ihres Arztberufes überhaupt verwehrt; sie sind lediglich in Bezug auf den Praxissitz als Vertragsarzt eingeschränkt. Demgegenüber wiegen die öffentlichen Interessen, denen die Zulassungsbeschränkungen zu dienen bestimmt sind, schwer. Die Sicherung der Leistungsfähigkeit und die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung sind Gemeinwohlaufgaben von hohem Rang. Jeder einzelne Schritt, mit dem der Gesetzgeber diese Ziele zu erreichen sucht, ist von erheblicher Bedeutung, auch wenn eine einzelne Maßnahme immer nur einen Teilbeitrag zur Verwirklichung des Gesamtziels leisten kann; die öffentlichen Belange verlieren nicht an Gewicht, wenn sie sich nur durch eine Vielzahl kleiner Schritte verwirklichen lassen (Beschluss des Ersten Senats vom 20. März 2001, a.a.O., S. 34 des Beschlussumdrucks). Der Beschwerdeführer scheitert mit seinem Wunsch auf Verlegung des Praxissitzes auch nicht notwendig auf Dauer. Er hat lediglich abzuwarten, ob in dem von ihm bevorzugten Bezirk ein Sitz frei wird.

d) Die Regelungen zur Anordnung von Zulassungssperren wegen Überversorgung sind insbesondere deshalb verhältnismäßig, weil sie den Zulassungsgremien überdies abweichende Entscheidungen im Rahmen von Sonderbedarfszulassungen ermöglichen (§ 101 SGB V, Nr. 24 bis 26 Bedarfsplanungs-Richtlinien-Ärzte). Der Gesetzgeber berücksichtigt damit, dass es im Einzelfall Besonderheiten geben mag, wobei die Zulassungsgremien und Fachgerichte aufgerufen sind, bei der Prüfung des Einzelfalles der wertsetzenden Bedeutung von Art. 12 Abs. 1 GG im Rahmen ihrer Ausnahmeentscheidung Rechnung zu tragen.

3. §§ 99 ff. SGB V und §§ 16 a und 16 b Ärzte-ZV sind auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

a) Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sind umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl. BVerfGE 95, 267 ≪316 f.≫; stRspr).

b) Auch einem strengen Prüfungsmaßstab hält die Regelung stand. Der Gesetzgeber hatte gute Gründe für seine Einschätzung, dass die approbierten Ärzte, die sich ohne steuernde Regelungen in bevorzugten Planungsbereichen niederlassen, für das Gesamtsystem höhere Kosten verursachen. Soweit der Gesetzgeber an die nach Landkreisen gegliederten Planungsbereiche angeknüpft hat, hat er von seiner Befugnis zur Typisierung Gebrauch gemacht und auch nicht einen atypischen Fall als Leitbild gewählt (vgl. BVerfGE 27, 142 ≪150≫). Er hat Bezirke gewählt, in denen Vertragsärzte tätig werden können und durch gesetzliche Vorgabe in § 101 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB V in der Fassung des 2. GKV-NOG sichergestellt, dass die Zulassungschancen in jedem Falle gewahrt werden. Damit ist eine wesentliche Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit der zulassungs- oder wechselwilligen Ärzte nicht zu besorgen.

4. Die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene Auslegung der Regelungen über Zulassungsbeschränkungen bei Überversorgung ist mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Auslegung und Anwendung der mittelbar angegriffenen Rechtsnormen sind Aufgabe der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht überprüft sie – abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot – nur darauf, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen Grundrechte, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 85, 248 ≪257 f.≫; stRspr). Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Normen die Tragweite der Grundrechte nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Dies kann hier nicht festgestellt werden. Es ist insbesondere nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Beweiswürdigung der Gerichte zu überprüfen.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

 

Unterschriften

Jaeger, Hömig, Bryde

 

Fundstellen

Haufe-Index 585079

DStR 2001, 1581

ArztR 2001, 302

JuS 2002, 514

MedR 2001, 639

DVBl. 2002, 400

www.judicialis.de 2001

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