Sie verwenden eine veraltete Browser-Version. Dies kann unter Umständen zu Einschränkungen in der Funktion sowie Darstellung führen. Daher empfehlen wir Ihnen, einen aktuellen Browser wie z.B. Microsoft Edge zu verwenden.
Personal
Steuern
Finance
Immobilien
Controlling
Themen
Öffentlicher Dienst
Recht
Arbeitsschutz
Sozialwesen
Sustainability
Haufe.de
Shop
Service & Support
Newsletter
Kontakt & Feedback
Login

Personal Steuern Finance Immobilien Controlling Öffentlicher Dienst Recht Arbeitsschutz Sozialwesen
Immobilien
Controlling
Öffentlicher Dienst
Recht
Arbeitsschutz
Sozialwesen
Sustainability
Themen

BVerfG Beschluss vom 10.05.1998 - 2 BvR 978/97

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen
 

Verfahrensgang

OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 17.04.1997; Aktenzeichen 20 W 10/97)

LG Wiesbaden (Beschluss vom 19.11.1996; Aktenzeichen 4 T 699/96)

 

Tenor

Der Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 17. April 1997 – 20 W 10/97 – und der Beschluß des Landgerichts Wiesbaden vom 19. November 1996 – 4 T 699/96 – verletzen Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Wiesbaden zurückverwiesen.

Das Land Hessen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Beschlüsse in einer Unterbringungssache, die Rechtsmittel wegen prozessualer Überholung zurückweisen.

I.

Die Beschwerdeführerin wurde am 28. September 1996 von einem Polizeibeamten in ihrer Wohnung nach § 10 des hessischen Gesetzes über die Entziehung der Freiheit geisteskranker, geistesschwacher, rauschgift- oder alkoholsüchtiger Personen (HFEG) in Verwahrung genommen und in das Psychiatrische Krankenhaus Eichberg verbracht. In der dieser Maßnahme vorangegangenen polizeilichen Anordnung wird ausgeführt, die Beschwerdeführerin stelle eine erhebliche Gefahr für ihre Mitmenschen (ihre zwei Kinder) und sich selbst dar, so daß die öffentliche und eigene Sicherheit die Unterbringung erfordere; es sei Gefahr im Verzug. Die Beschwerdeführerin leide unter Schizophrenie, die schubweise verlaufe und akut aufgetreten sei.

Am 29. September 1996 beschloß das Amtsgericht nach Anhörung der Beschwerdeführerin und Vernehmung eines Sachverständigen, die Beschwerdeführerin sei gemäß § 70h FGG einstweilen, längstens für die Dauer von sechs Wochen, in einer geschlossenen Krankenabteilung unterzubringen. Zur Begründung führte das Gericht aus, das vorliegende ärztliche Gutachten erachte eine erhebliche Eigen- und Fremdgefährdung, die auf schizophrenen Schüben beruhe, für gegeben. Die Unterbringung sei daher anzuordnen; dabei sei es unbeachtlich, daß die zuständige Verwaltungsbehörde einen entsprechenden Antrag noch nicht gestellt habe. Dieser Beschluß trat durch Zeitablauf außer Kraft. Die Beschwerdeführerin wurde spätestens Mitte November 1996 aus der Klinik entlassen.

Bereits am 8. Oktober 1996 hatte die Beschwerdeführerin gegen den Beschluß des Amtsgerichts sofortige Beschwerde eingelegt. Nachdem sie aus der Klinik entlassen worden war, beantragte sie, die Rechtswidrigkeit der Unterbringungsmaßnahme festzustellen. Am 19. November 1996 verwarf das Landgericht die sofortige Beschwerde als unzulässig, weil der angefochtene Beschluß außer Kraft getreten sei und eine Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde dem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit fremd sei.

Die dagegen eingelegte sofortige weitere Beschwerde wies das Oberlandesgericht durch Beschluß vom 17. April 1997 zurück; es bestätigte die Rechtsauffassung des Landgerichts.

Gegen diese beiden Beschlüsse wendet sich die Beschwerdeführerin mit der Verfassungsbeschwerde. Sie hält die einstweilige Unterbringung für rechtswidrig und begründet dies im einzelnen.

Zu der Verfassungsbeschwerde hat sich die Hessische Staatskanzlei geäußert. Sie hält die Verfassungsbeschwerde für begründet.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG) und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für diese Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG.

1. a) Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes verbietet es den Rechtsmittelgerichten, ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel ineffektiv zu machen und für den Beschwerdeführer “leerlaufen” zu lassen. Hiervon muß sich das Rechtsmittelgericht bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob im jeweiligen Einzelfall für ein nach der Prozeßordnung statthaftes Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht. Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich vereinbar, wenn die Gerichte ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben ansehen, als ein gerichtliches Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Darüber hinaus gebietet Art. 19 Abs. 4 GG die Annahme eines Rechtsschutzinteresses aber auch in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27 ≪38 ff.≫; vgl. auch Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juni 1997 – 2 BvR 941/91 –, EuGRZ 1997, S. 372 ff., vom 26. Juni 1997 – 2 BvR 126/91 –, EuGRZ 1997, S. 374 ff. und vom 12. September 1997 – 2 BvR 176/96 –, RdL 1997, S. 320 f.). Tiefgreifende Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz – wie in den Fällen des Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 – vorbeugend dem Richter vorbehalten hat.

b) Zu der genannten Fallgruppe gehört auch die Freiheitsentziehung nach den §§ 70h FGG, 10 HFEG.

aa) Auch in derartigen Fällen ist die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Vorläufige Unterbringungsmaßnahmen durch einstweilige Anordnung nach § 70h Abs. 1 FGG sind auf längstens sechs Wochen begrenzt (§ 70h Abs. 2 Satz 1 FGG). In den Fällen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung wird dieser Zeitraum häufig erheblich unterschritten (vgl. Saage/Göppinger, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 3. Aufl., 1.2 Rn. 25 mit weiteren Nachweisen, wonach die Hälfte aller öffentlich-rechtlichen Unterbringungen innerhalb von fünf Tagen, 75 % innerhalb von drei Wochen aufgehoben wurden). Häufig fällt der akute Anlaß der Unterbringungsmaßnahme nach kurzer Zeit wieder weg, wenn die akuten Auswirkungen der Erkrankung wieder abgeflaut oder die Symptome der Erkrankung durch Medikamente unter Kontrolle gebracht worden sind (vgl. Saage/Göppinger, a.a.O., 5.3 Rn. 2). Der Kammer ist aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt, daß in solchen Fällen Rechtsschutz im Rechtsmittelwege bisher häufig nicht erlangt werden konnte, weil die Unterbringung im Zeitpunkt der Entscheidung durch die Beschwerdeinstanz bereits beendet war. Auch im Ausgangsverfahren erging die Entscheidung des Landgerichts im Beschwerdeverfahren erst nach Ablauf der höchstzulässigen Dauer der Unterbringung von sechs Wochen, obwohl die sofortige Beschwerde bereits binnen zehn Tagen nach Anordnung der Unterbringung eingelegt worden war.

bb) Eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme stellt einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff dar, so daß im Einzelfall ein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der beanstandeten Maßnahme bestehen kann.

2. Nach dem dargestellten Maßstab ist die Verfassungsbeschwerde begründet.

Landgericht und Oberlandesgericht haben in den angegriffenen Beschlüssen die Beschwerde der Beschwerdeführerin ausschließlich aufgrund der Erledigung der Maßnahme für unbegründet gehalten. Sie haben damit den Anspruch der Beschwerdeführerin aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.

3. Die Entscheidungen beruhen auf dem dargelegten Fehler. Es ist nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin nicht auszuschließen, daß sich die Maßnahme des Amtsgerichts bei näherer Prüfung durch die Tatsacheninstanz als rechtswidrig erweist.

4. Die angegriffenen Beschlüsse sind daher aufzuheben, die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Limbach, Graßhof, Kirchhof

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276537

NJW 1998, 2432

BtPrax 1998, 184

R&P 1998, 201

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?

Jetzt kostenlos 4 Wochen testen

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene Beiträge
  • zfs 03/2020, Ersatz der Mehrwertsteuer bei Erwerb eines ... / 2 Aus den Gründen:
    3
  • § 12 Erbengemeinschaft / 8. Prozesskostenhilferecht
    2
  • AGS 7/2017, Verfahrenswert eines Freistellungsanspruchs ... / 2 Aus den Gründen
    2
  • Fahrzeug-Zulassungsverordnung [bis 31.08.2023] / Abschnitt 1 Gemeinsame Vorschriften
    2
  • FF 01/2013, Illoyale Vermögensminderung und Zugewinnausg ... / Aus den Gründen:
    2
  • zfs 03/2009, Problemfelder zum Punktesystem aus Sicht de ... / 2. Bindung an die rechtskräftige Entscheidung
    2
  • § 12 Produkthaftpflichtversicherung / VIII. Zeitliche Begrenzung (Ziff. 7)
    1
  • § 14 Unternehmensumstrukturierungen / a) Muster (Partnerschaftsgesellschaft zur Aufnahme auf eine andere Partnerschaftsgesellschaft ohne Abfindungsangebot)
    1
  • § 14 Vor- und Nacherbfolge / c) Muster: Antrag auf Feststellung des Zustands der zum Nachlass gehörenden Sachen
    1
  • § 15 Erbscheinsverfahren / bb) Personenstandsurkunden
    1
  • § 16 Der Pflichtteil im Steuerrecht / 7. Besteuerung des Pflichtteils
    1
  • § 2 Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) / 2. Auf das Ausscheiden des Gesellschafters anwendbare Vorschriften
    1
  • § 2 Pflichten aus dem Anwaltsvertrag / bb) Rechtswahlklauseln
    1
  • § 2 Urheberrecht / 5. Schutz des Sendeunternehmens
    1
  • § 22 Fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) / I. Tathandlung: Körperliche Misshandlung und/oder Gesundheitsbeschädigung
    1
  • § 25 Mitbestimmungs- und Arbeitsrecht / 3. Grundsätze für Sozialplanabfindungen
    1
  • § 29 Allgemeine verwaltungsrechtliche Angelegenheiten / 3. Terminsgebühr
    1
  • § 3 Trennung der Eheleute / 2. Verbindlichkeiten nach der Trennung und Scheidung
    1
  • § 4 Ehegattenunterhalt / e) Ausbildung
    1
  • § 9 Erbrechtliche Auskunftsansprüche, Register- und Akte ... / c) Eidesstattliche Versicherung trotz Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses
    1
Weitere Inhalte finden Sie u.a. in folgendem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium
Top-Themen
Downloads
Zum Haufe Shop
Produktempfehlung


Zum Thema Recht
Optimal gestaltet: Schiedsverfahren in der Unternehmenspraxis
Schiedsverfahren in der Unternehmenspraxis
Bild: Haufe Shop

Im Fokus des Buches stehen die Gestaltung des gesamten Schiedsverfahrens, ​in der Praxis auftretende Probleme, ​Anforderungen an die Vertragsestaltung sowie praktikable Lösungen. Konkrete Handlungsanweisungen und Formulierungsvorschläge unterstützen die Parteien bei der praktischen Umsetzung. ​


OLG Koblenz 1 Ws 293/03
OLG Koblenz 1 Ws 293/03

  Leitsatz (amtlich) 1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht bei schwer wiegenden Grundrechtseingriffen auch nachträglich ein Interesse an der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit. Zwar wird im vorliegenden Fall nicht die ...

4 Wochen testen


Newsletter Recht
Newsletter Recht - Wirtschaftsrecht

Aktuelle Informationen aus dem Bereich Wirtschaftsrecht frei Haus - abonnieren Sie unseren Newsletter:

  • Handels- und Gesellschaftsrecht
  • Gewerblicher Rechtsschutz
  • Vertriebsrecht
Pflichtfeld: Bitte geben Sie eine gültige E-Mail Adresse ein.
Bitte bestätigen Sie noch, dass Sie unsere AGB und Datenschutzbestimmungen akzeptieren.
Haufe Fachmagazine
Themensuche
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
Zum Recht Archiv
Haufe Group
Haufe People Operations Haufe Fachwissen Haufe HR-Software Haufe Digitale Personalakte Advolux Haufe Onlinetraining rudolf.ai - Haufe meets AI
Weiterführende Links
RSS Newsletter FAQ Mediadaten Presse Editorial Code of Conduct Redaktionsrichtlinie zum KI-Einsatz Netiquette Sitemap Buchautor:in werden bei Haufe
Kontakt
Kontakt & Feedback AGB Cookie-Einstellungen Compliance Datenschutz Impressum
Haufe Shop Recht
Anwaltssoftware Anwaltliches Fachwissen Software Gesellschafts- & Wirtschaftsrecht Lösungen Alle Recht Produkte

    Weitere Produkte zum Thema:

    × Profitieren Sie von personalisierten Inhalten, Angeboten und Services!

    Unser Ziel ist es, Ihnen eine auf Ihre Bedürfnisse zugeschnittene Website anzubieten. Um Ihnen relevante und nützliche Inhalte, Angebote und Services präsentieren zu können, benötigen wir Ihre Einwilligung zur Nutzung Ihrer Daten. Wir nutzen den Service eines Drittanbieters, um Ihre Aktivitäten auf unserer Website zu analysieren.

    Mit Ihrer Einwilligung profitieren Sie von einem personalisierten Website-Erlebnis und Zugang zu spannenden Inhalten, die Sie informieren, inspirieren und bei Ihrer täglichen Arbeit unterstützen.

    Wir respektieren Ihre Privatsphäre und schützen Ihre Daten. Sie können sich jederzeit darüber informieren, welche Daten wir erheben und wie wir sie verwenden. Sie können Ihre Einwilligung jederzeit widerrufen. Passen Sie Ihre Präferenzen dafür in den Cookie-Einstellungen an.

    Mehr Informationen Nein, Danke Akzeptieren