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BVerfG Beschluss vom 01.09.1997 - 1 BvR 1929/95

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Stattgebender Kammerbeschluß: Kürzung eines 13. Monatsentgelts aufgrund krankheitsbedingter Fehlzeiten ohne ausreichende tatsächliche Aufklärung der Ursachen des Krankenstandes verletzt den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz

Orientierungssatz

1. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist die Ansicht, daß eine Betriebsvereinbarung über die Gewährung eines 13. Monatslohns für die gewerblichen Arbeitnehmer am arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz zu messen ist mit der Folge, daß verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern nur aus sachlichen Gründen unterschiedlich behandelt werden dürfen. Damit liegen die Voraussetzungen vor, unter denen der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des GG Art 3 Abs 1 Geltung beansprucht. Bei Regelungen, die - wie hier - Personengruppen verschieden behandeln oder sich auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig auswirken, müssen für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können (vgl BVerfG, 1990-05-30, 1 BvL 2/83, BVerfGE 82, 126 ≪146≫).

2. Bei der Kürzung des 13. Monatsentgelts wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten haben die Gerichte einen sachlichen Grund für die unterschiedliche Behandlung der gewerblichen Arbeitnehmer und der Angestellten in dem erheblich höheren Krankenstand (um das 7,5-fache höher) bei den gewerblichen Arbeitnehmern im Betrieb der beklagten Arbeitgeberin gesehen. Dieser Gesichtspunkt vermag jedoch eine Schlechterstellung der gewerblichen Arbeitnehmer im hier vorliegenden Zusammenhang nur dann zu rechtfertigen, wenn er in der Sphäre der Arbeitnehmer und nicht in der Sphäre der Arbeitgeberin begründet liegt. Solange nicht ausgeschlossen ist, daß der hohe Krankenstand der gewerblichen Arbeitnehmer auf gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen beruht, für die der Arbeitgeber allein verantwortlich ist, ist es offensichtlich ungerechtfertigt, daß dieser ihnen wegen der aus diesen Risiken erwachsenden Schadensfolgen auch noch finanzielle Nachteile auferlegt.

Ohne nähere Erkenntnisse über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen und ohne weitere Aufklärung der Ursachen des erheblich höheren Krankenstandes bei den gewerblichen Arbeitnehmern halten die angegriffenen Entscheidungen am Maßstab des GG Art 3 Abs 1 nicht stand.

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; BetrVG § 75 Abs. 1; BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1

Verfahrensgang

BAG (Urteil vom 19.04.1995; Aktenzeichen 10 AZR 136/94; DB 1995, 1996, )

LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 21.09.1993; Aktenzeichen 8 Sa 1023/93)

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Kürzung eines 13. Monatsentgelts aufgrund krankheitsbedingter Fehlzeiten.

1. Der Beschwerdeführer war als Bäcker beschäftigt. Die Arbeitgeberin beschäftigte in dem Produktions- und Lagerbereich ihres Betriebes überwiegend gewerbliche Arbeitnehmer, im Handelsbereich ausschließlich Angestellte. Die Angestellten erhielten 1992 auf einzelvertraglicher Grundlage ein 13. Monatsgehalt. Für die gewerblichen Arbeitnehmer galt eine Betriebsvereinbarung, aufgrund derer ein 13. Monatslohn gewährt wurde, welcher pro Fehltag, der nicht durch Kuren oder Arbeitsunfälle verursacht war, um 1/60 des Betrages gekürzt wurde, der die nach dem einschlägigen Tarifvertrag garantierte Sonderzuwendung überstieg. Wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten des Beschwerdeführers kürzte die Arbeitgeberin dessen 13. Monatslohn für 1992 um 1.595,33 DM brutto. Diesen Betrag machte der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren geltend.

Die Arbeitgeberin berief sich zur Rechtfertigung der Kürzung des 13. Monatsentgelts nur bei den gewerblichen Arbeitnehmern darauf, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall an die Arbeiter sei fünfmal so hoch wie die Gehaltsfortzahlung an die Angestellten. Unstreitig betrug der Krankenstand der gewerblichen Arbeitnehmer im Betrieb der Arbeitgeberin seit Jahren durchschnittlich 15 vom Hundert, bei den Angestellten weniger als 3 vom Hundert, 1992 nur 2 vom Hundert. Der durchschnittliche Krankenstand aller bei der für die Arbeitgeberin zuständigen Innungskrankenkasse versicherten Arbeitnehmer lag bei 4 vom Hundert.

2. Das Landesarbeitsgericht hielt die Kürzung für zulässig. Sie verstoße auch nicht gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Die hohen Fehlzeiten der gewerblichen Arbeitnehmer gegenüber den erheblich geringeren Fehlzeiten der Angestellten stellten einen sachlichen Grund für die Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten dar. Zwar seien die gewerblichen Arbeitnehmer aufgrund der unterschiedlichen Tätigkeiten in der Regel krankheitsanfälliger als die Angestellten. Die Fehlzeiten der gewerblichen Arbeitnehmer hätten zuletzt aber das 7,5-fache der Fehlzeiten der Angestellten betragen. Ein Krankenstand von 15 vom Hundert sei angesichts eines durchschnittlichen Krankenstandes von 4 vom Hundert bei der Innungskrankenkasse nicht der Normalfall. Natürlich seien nicht alle bei der Innungskrankenkasse Versicherten in Produktionsbetrieben des Bäckereihandwerks beschäftigt. Eine statistische Erhebung über den Krankenstand in Produktionsbetrieben des Bäckereihandwerks sei dennoch entbehrlich. Es sei ausreichend für die Differenzierung zwischen gewerblichen Arbeitnehmern und Angestellten, wenn die krankheitsbedingten Fehlzeiten der Gruppen so erheblich voneinander abwichen, daß dieser Unterschied nicht mehr allein darauf zurückgeführt werden könne, daß die gewerblichen Arbeitnehmer aufgrund ihrer anders gearteten Tätigkeit krankheitsanfälliger seien als Angestellte.

3. Auch das Bundesarbeitsgericht sah einen sachlichen Grund für die verschiedene Behandlung der gewerblichen Arbeitnehmer und der Angestellten im Hinblick auf die Kürzung des 13. Monatseinkommens in dem erheblichen Unterschied in den krankheitsbedingten Fehlzeiten. Daher habe weder der Beschwerdeführer einen Anspruch auf den ungekürzten 13. Monatslohn aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, noch hätten die Betriebsparteien gegen § 75 Abs. 1 BetrVG verstoßen, wenn sie lediglich für die gewerblichen Arbeitnehmer eine Betriebsvereinbarung über die Zahlung eines 13. Monatslohnes geschlossen hätten , die eine Kürzung aufgrund krankheitsbedingter Fehlzeiten vorsehe.

4. Der Beschwerdeführer macht mit der Verfassungsbeschwerde im wesentlichen geltend, die Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts verletzten Art. 3 Abs. 1 GG. Der unterschiedliche Krankenstand bei gewerblichen Arbeitnehmern einerseits und Angestellten andererseits sei kein sachlicher Grund für eine Kürzung nur des 13. Monatslohnes der gewerblichen Arbeitnehmer aufgrund krankheitsbedingter Fehlzeiten. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, daß Arbeitnehmer im gewerblichen Produktionsbereich, insbesondere in Backwarenbetrieben, sehr viel eher gesundheitsbeeinträchtigenden Einflüssen wie Lärm, Staub, Hitze oder Kälte ausgesetzt seien als Angestellte. Bei gleichen Bedingungen lägen auch die Krankenstände beider Gruppen auf annähernd gleichem Niveau.

II.

1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Urteile des Landesarbeitsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in dem genannten Grundrecht. Die für diese Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

2. a) Die Auslegung und Anwendung arbeitsrechtlicher Vorschriften sowie die Feststellung und Würdigung der Tatsachen ist grundsätzlich Sache der Arbeitsgerichte. Das Bundesverfassungsgericht prüft nur, ob grundrechtliche Normen und Maßstäbe gewahrt sind (BVerfGE 89, 214 ≪230≫). Ein Verfassungsverstoß liegt vor, wenn die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere dem Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (BVerfGE 18, 85 ≪93≫; 42, 143 ≪149≫; 89, 214 ≪230≫; stRspr).

b) Die angegriffenen Urteile beruhen auf der Ansicht, daß die Betriebsvereinbarung am arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz zu messen ist mit der Folge, daß verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern nur aus sachlichen Gründen unterschiedlich behandelt werden dürfen. Dieser Ausgangspunkt ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Er schließt die Beurteilung ein, daß die Arbeitnehmer des Betriebs eine Personengruppe bilden, die im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Vergünstigungen vom Arbeitgeber grundsätzlich gleich zu behandeln ist. Damit liegen die Voraussetzungen vor, unter denen der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG Geltung beansprucht. Insofern sind die angegriffenen Entscheidungen an diesem Grundrecht zu messen. Ob die Betriebsparteien, soweit sie über Betriebsvereinbarungen gemäß § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG für die von ihnen vertretenen Arbeitnehmer unmittelbar geltendes Recht schaffen, von Verfassungs wegen ebenso wie der Gesetzgeber an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind, kann dahingestellt bleiben.

c) Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Die Abstufung der Anforderungen folgt aus Wortlaut und Sinn des Art. 3 Abs. 1 GG sowie aus seinem Zusammenhang mit anderen Verfassungsnormen.(Bei Regelungen, die - wie hier - Personengruppen verschieden behandeln oder sich auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig auswirken, müssen für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 82, 126 ≪146≫).

3. a) Daran gemessen halten die angegriffenen Urteile einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Landesarbeitsgericht und Bundesarbeitsgericht haben zwar geprüft, ob ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung der gewerblichen Arbeitnehmer und der Angestellten bei der Kürzung des 13. Monatsentgelts wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten gegeben war. Sie haben ihn darin erblickt, daß der Krankenstand im Betrieb der beklagten Arbeitgeberin bei den gewerblichen Arbeitnehmern um das 7,5-fache höher sei als bei den Angestellten. Dieser Gesichtspunkt vermag jedoch eine Schlechterstellung der gewerblichen Arbeitnehmer im hier vorliegenden Zusammenhang nur dann zu rechtfertigen, wenn er in der Sphäre der Arbeitnehmer und nicht in der Sphäre der Arbeitgeberin begründet liegt. Solange nicht ausgeschlossen ist, daß der hohe Krankenstand der gewerblichen Arbeitnehmer auf gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen beruht, für die der Arbeitgeber allein verantwortlich ist, ist es offensichtlich ungerechtfertigt, daß dieser ihnen wegen der aus diesen Risiken erwachsenden Schadensfolgen auch noch finanzielle Nachteile auferlegt.

b) Das Landesarbeitsgericht räumt ein, daß die gewerblichen Arbeitnehmer in der Regel aufgrund der unterschiedlichen Tätigkeiten krankheitsanfälliger seien als die Angestellten.

Es mißt dem aber keine Bedeutung bei, weil die krankheitsbedingten Fehlzeiten der beiden Gruppen der bei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigten Arbeitnehmer so erheblich voneinander abwichen, daß dieser krasse Unterschied nicht allein auf die anders geartete Tätigkeit der gewerblichen Arbeitnehmer zurückgeführt werden könne. Nachvollziehbare Gründe fur diese Einschätzung, insbesondere weitere Tatsachen, die diese nahelegen konnten, lassen sich der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht entnehmen. Damit wird es den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG nicht gerecht. Ohne nähere Erkenntnisse über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen der Beschwerdeführer läßt sich das von ihnen ausgehende Gesundheitsrisiko schlechterdings nicht bestimmen. Die erhebliche Abweichung der Krankenstandsquote zwischen den beiden Arbeitnehmergruppen besagt dazu für sich genommen nichts. Dasselbe gilt für die festgestellten Abweichungen vom Durchschnitt der bei der Innungskrankenkasse Versicherten, zumal nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht alle bei der Innungskrankenkasse Versicherten in Produktionsbetrieben des Bäckereihandwerks beschäftigt sind. Maßgeblich ist allein der Betrieb der Beklagten des Ausgangsverfahrens. Dafür, daß der höhere Krankenstand ganz oder teilweise auf Ursachen zurückgeht, die in der Sphäre der Arbeiter liegen, lagt sich dem Urteil des Landesarbeitsgerichts nichts entnehmen.

c) Das Bundesarbeitsgericht geht der Frage nach den Ursachen des erheblich höheren Krankenstandes bei den gewerblichen Arbeitnehmern im Betrieb der Arbeitgeberin ebenfalls nicht weiter nach. Auch seine Entscheidung hält damit einer Überprüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht stand.

4. Die angegriffenen Entscheidungen sind daher wegen Verletzung des Grundrechtes des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG aufzuheben. Da weitere tatsächliche Aufklärung erforderlich ist, ist die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs 2. BVerfGG.

Fundstellen

  • Haufe-Index 543596
  • BB 1997, 2330-2331 (red. Leitsatz und Gründe)
  • DB 1997, 2438-2439 (red. Leitsatz und Gründe)
  • NJW 1998, 591
  • NJW 1998, 591-592 (red. Leitsatz und Gründe)
  • BuW 1998, 38-40 (Gründe)
  • AiB 1998, 355-357 (red. Leitsatz und Gründe)
  • FA 1998, 95
  • NZA 1997, 1339
  • EEK , I/1192 (red. Leitsatz und Gründe)
  • NZA 1997, 1339-1340 (red. Leitsatz und Gründe)
  • ZAP , EN-Nr. 954/97 (red. Leitsatz)
  • JA 1998, 623
  • AR-Blattei , ES 800 Nr. 134 (red. Leitsatz und Gründe)
  • ArbuR 1998, 41-42 (red. Leitsatz und Gründe)
  • EzA-SD 1997, Nr. 22, 5-7 (red. Leitsatz und Gründe)
  • JA 1998, 623 (red. Leitsatz)
  • NJ 1998, 27 (red. Leitsatz)

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