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BSG Urteil vom 29.09.1964 - 2 RU 30/64

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Leitsatz (amtlich)

1. Hinterbliebenen steht ein Entschädigungsanspruch nach der 6. BKVO nicht zu, wenn der Versicherte bereits vor dem Inkrafttreten dieser 3. BKVO an den Folgen eines Bronchialasthmas (Anl Nr 41) gestorben ist.

2. "Neue" Erkenntnisse iS des RVO § 551 Abs 2 sind solche Erkenntnisse über die im Einzelfall in Betracht kommende Krankheit, die in der letzten BKVO noch nicht berücksichtigt worden sind.

 

Normenkette

BKVO 6 Anl 1 Nr. 41 Fassung: 1961-04-28; RVO § 551 Abs. 2 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Dezember 1963 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist die Witwe des im Juli 1903 geborenen Metallschleifers Josef D (D.), der am 9. Januar 1960 verstorben ist. D. war seit 1920 in verschiedenen Betrieben mit dem Schleifen von Metallteilen - z. T. aus Aluminium - beschäftigt, zuletzt von 1953 bis zum Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit bei der Firma F & H wo der Schleifarbeiten an Aluminiumblechen auszuführen hatte. Er wurde am 18. Oktober 1957 arbeitsunfähig infolge einer Erkrankung der Atmungsorgane. Der Landesgewerbearzt Dr. K hielt in seiner Äußerung vom 24. Juni 1958 eine asthmatoide Bronchitis für gegeben und verneinte das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK). Die Beklagte erteilte dem D. hierauf den Bescheid vom 10. September 1958, mit dem sie einen Entschädigungsanspruch auf Grund der Fünften Berufskrankheiten-Verordnung (5. BKVO) vom 26. Juli 1952 ablehnte.

Im Verfahren über die von D. hiergegen erhobene Klage vertrat der Lungenfacharzt Dr. Sch in seinem Gutachten vom 3. September 1959 die Ansicht, ein Bronchialasthma liege nicht vor, vielmehr handele es sich um chronisch-fibrotische Lungenveränderungen infolge Einatmung von Aluminiumstaub. Der Landesgewerbearzt Dr. K pflichtet in seinem Gutachten vom 8. Januar 1960 dieser Ansicht bei und empfahl die Anerkennung einer BK im Sinne der Nr. 30 der Anlage zur 5. BKVO. Kurz danach wurde D. obduziert; in dem Obduktionsgutachten führte Prof. Dr. N aus, D. habe trotz seines jahrzehntelangen beruflichen Umgangs mit Aluminium keine Lungenfibrose erworben, also auch keine BK erlitten. Sein zum Tode führendes chronisches Leiden sei ein ungewöhnlich schweres Bronchialasthma gewesen, welches vorwiegend auf konstitutioneller Grundlage entstehe. Dieser Auffassung schlossen sich die Landesgewerbeärzte Dr. W (Gutachten vom 16. März 1960) und Dr. K (Gutachten vom 16. September 1960) an. Dagegen blieb der Sachverständige Dr. Sch im Gutachten vom 8. Juli 1960 bei seiner früher geäußerten Ansicht, D. sei an einer durch Aluminiumstaub hervorgerufenen BK verstorben. Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat sodann den Sachverständigen Dr. med. habil G gehört, der in seinem Gutachten vom 26. Mai 1961 dargelegt hat, weder nach dem klinischen Krankheitsverlauf noch nach dem Obduktionsergebnis bestehe auch nur der Verdacht einer Aluminiumlunge; D. sei nicht an den Folgeerscheinungen einer BK verstorben, es habe sich um ein schweres Bronchialasthma gehandelt. Das SG hat die Verfahren über die von der Klägerin fortgesetzten Klage des D. und die Klage gegen den Bescheid vom 24. März 1960 über Ablehnung der Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen gemäß § 113 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verbunden. Durch Urteil vom 3. Oktober 1961 hat es die Klagen abgewiesen: D. habe nicht an einer Aluminiumlunge gelitten, sein Tod sei auf eine BK nicht zurückzuführen.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 12. Dezember 1963 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Die Berufung sei auch insoweit zulässig, als die Klägerin den Rentenanspruch des D. bis zu dessen Ableben geltend gemacht habe; denn die Klägerin habe mit Recht den wesentlichen Verfahrensmangel (§ 150 Nr. 2 SGG) gerügt, daß das SG die vor Erlaß seines Urteils in Kraft getretene 6. BKVO vom 28. April 1961 nicht berücksichtigt und die Beteiligten insbesondere nicht auf die Nr. 41 der Anlage zur 6. BKVO hingewiesen habe.

Eine Erkrankung der tieferen Luftwege oder der Lunge durch Aluminium (Nr. 30 der Anlage zur 5. BKVO = Nr. 29 der Anlage zur 6. BKVO) habe bei D. nicht bestanden. Seine berufliche Tätigkeit habe keine Gefährdung durch Aluminiumfeinstaub bewirkt. Die für diese BK typischen fibrotischen Lungenveränderungen seien bei der Obduktion nicht festzustellen gewesen, desgleichen auch keine Metallablagerungen. Die von Dr. Sch auch nach Kenntnis des Obduktionsbefunds weiterhin vertretene Annahme einer Aluminiumschädigung der Lunge überzeuge nicht; sie begründe nur die fernliegende Möglichkeit einer BK.

Die 6. BKVO mit Nr. 41 der Anlage, nach der erstmals ein Bronchialasthma als BK anerkannt werden könne, sei auf die Erkrankung des D. nicht anzuwenden, da dieser bereits vor dem 7. Mai 1961, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der 6. BKVO, verstorben sei. § 4 Abs. 2 der 6. BKVO setze voraus, daß ein Versicherter beim Inkrafttreten dieser Verordnung an einer Krankheit leide, die erst auf Grund der Verordnung als BK anerkannt werden könne; dies bedeute, daß der Versicherte das Inkrafttreten der 6. BKVO erlebt haben müsse. Eine Rückwirkung für die Hinterbliebenen eines vor Inkrafttreten der 6. BKVO verstorbenen Versicherten enthalte deren § 4 nicht. Mit derselben Begründung komme § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (RVO nF) nicht in Betracht. Das UVNG sei ebenfalls erst nach dem Tode des D., nämlich am 1. Juli 1963 in Kraft getreten. Eine Rückwirkung sei dem § 551 Abs. 2 nur insoweit beigelegt worden, als er auch für Arbeitsunfälle gelte, die vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten seien (Art. 4 § 2 Abs. 1). Die übrigen Anspruchsvoraussetzungen müßten jedoch bei Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung vorgelegen haben, darunter auch die Voraussetzung, daß der Versicherte die Neuregelung erlebt habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 28. Januar 1964 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 7. Februar 1964 Revision eingelegt und sie am 19. März 1964 wie folgt begründet: Zwar sei mit dem LSG davon auszugehen, daß D. nicht an einer Aluminiumlunge gelitten habe. Die Frage jedoch, ob das Bronchialasthma durch berufliche Einwirkungen verursacht wurde, sei durch die bisherige Beweisaufnahme noch nicht hinreichend geklärt worden. Die Auffassung, auf Grund des § 4 Abs. 2 der 6. BKVO sei die rückwirkende Anwendung der Nr. 41 auf Hinterbliebene vorher verstorbener Versicherter ausgeschlossen, halte einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Es verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, daß der Gesetzgeber an zeitliche Unterschiede verschiedene Rechtsfolgen geknüpft habe. Die ungleiche Behandlung zweier Versicherter wegen eines Zeitunterschieds sei nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedankenorientierten Betrachtungsweise vereinbar. § 4 Abs. 2 der 6. BKVO sei daher nichtig, deshalb komme es entscheidend auf die bisher unterbliebene Prüfung der Zusammenhangsfrage an.

Sei der ursächliche Zusammenhang zu bejahen, so erhebe sich die weitere Frage, ob die Krankheit des D. nach neuen Erkenntnissen geeignet gewesen sei, Gegenstand der BK-Liste zu werden. Auch diese Frage sei in tatsächlicher Hinsicht bisher nicht ausreichend geklärt. Ergebe die noch vorzunehmende Aufklärung, daß die medizinischen Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO nF vorlägen, so müsse geprüft werden, ob die Rückwirkung dieser Vorschrift im vorliegenden Fall durchgreife. Nach Art. 4 § 2 UVNG gelte § 551 Abs. 2 RVO nF auch für Arbeitsunfälle, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten seien. Bei einer BK gelte als Unfallzeitpunkt der Beginn von Krankheit oder Erwerbsunfähigkeit. Da D. wegen des Bronchialasthmas seit dem 18. Oktober 1957 arbeitsunfähig gewesen sei, sei der Versicherungsfall zu diesem Zeitpunkt, also vor Inkrafttreten des UVNG eingetreten. Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die ihrem verstorbenen Ehemann zustehende Rente und die Hinterbliebenenrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.

II

Die zulässige Revision hatte keinen Erfolg.

Keinen Bedenken unterliegt die Ansicht des LSG, daß die Berufung der Klägerin in vollem Umfang zulässig gewesen ist.

Im Revisionsverfahren hat die Klägerin ihre frühere Behauptung, ihr Ehemann sei einer Lungenerkrankung durch Aluminium erlegen, nicht aufrechterhalten. Der Rechtsstreit betrifft nur noch die Frage, ob ein Entschädigungsanspruch deshalb besteht, weil das Bronchialasthma des D. eine BK darstellt oder wie eine solche zu entschädigen ist. Diese Frage hat das LSG zutreffend verneint.

Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO ist die Nr. 41 der Anlage auf berufsbedingte Erkrankungen an Bronchialasthma, die seit dem 1. Januar 1952 eingetreten sind, nur anzuwenden, wenn der Versicherte beim Inkrafttreten der 6. BKVO - also am 7. Mai 1961 - an dieser Krankheit leidet.

Diese Voraussetzung lag bei D. nicht vor; denn er war bereits am 9. Januar 1960, also vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO, verstorben. Der aus dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift folgende Ausschluß der Rückwirkung auf Hinterbliebene vorher verstorbener Versicherter (vgl. BSG 6, 29, 33 mit weiteren Nachweisen; Koetzing/Linthe, Die Berufskrankheiten, 1962, Anm. 4 zu § 4 der 6. BKVO, S. 158) verstößt nicht - wie die Revision meint - gegen Art. 3 des Grundgesetzes. Es bleibt im allgemeinen dem Gesetzgeber überlassen, neu eingeführte Leistungsverbesserungen nicht beliebig weit zurück auf abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Sachverhalte auszudehnen (vgl. BSG 14, 95, 97 mit weiteren Nachweisen). Ähnlich wie in § 4 Abs. 2 der 6. BKVO war die rückwirkende Geltung von neu in die BK-Liste aufgenommenen Positionen auch schon in den Übergangsbestimmungen der früheren BKVOen geregelt worden. Die Revision hat keine besonderen Gesichtspunkte angeführt, auf Grund deren gerade beim Inkrafttreten der 6. BKVO ausnahmsweise eine noch weiterreichende Rückwirkung geboten erscheinen müßte.

Aus § 551 Abs. 2 RVO nF läßt sich ein Entschädigungsanspruch der Klägerin gleichfalls nicht herleiten. Zwar handelt es sich hierbei um eine der Vorschriften, die gemäß Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auch für vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetretene Arbeitsunfälle gelten. Aus dieser - nicht völlig eindeutigen-Regelung meint die Revision folgern zu können, § 551 Abs. 2 RVO nF sei auf den vorliegenden Fall anzuwenden, da der Versicherungsfall mit der Arbeitsunfähigkeit des D. am 18. Oktober 1957 - also vor dem Inkrafttreten des UVNG am 1. Juli 1963 - eingetreten sei. Dieser Auffassung vermag der erkennende Senat ebensowenig beizupflichten wie der entgegengesetzten, von Koetzing und Noeske (BG 1963, 363, 365) vertretenen Ansicht, eine vor dem 1. Juli 1963 bereits vorhandene Krankheit könne nicht jetzt auf Grund des § 551 Abs. 2 RVO nF wie eine BK entschädigt werden, die Rückwirkung gemäß Art. 4 § 2 UVNG bedeute nämlich nur, daß § 551 Abs. 2 für solche Gesundheitsschäden gelte, die nach Inkrafttreten des UVNG aufgetreten seien. Beide Auslegungen werden dem erkennbaren Sinn des § 551 Abs. 2 RVO aF nicht gerecht. Nach dieser Vorschrift soll im Einzelfall für eine in der BKVO noch nicht bezeichnete Krankheit Entschädigung geleistet werden, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind; die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft, nach denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen krankheitsverursachenden Einwirkungen ausgesetzt sind (vgl. Abs. 1 Satz 2), müssen also "neu" sein. Dieses Erfordernis bedeutet, daß es sich um solche Erkenntnisse über die im Einzelfall in Betracht kommende Krankheit handelt muß, die in der letzten BKVO noch nicht berücksichtigt worden sind. Handelt es sich dagegen um alte Erkenntnisse, die beim Erlaß der jeweils letzten BKVO bereits vorlagen, so daß sie zur Ergänzung der BK-Liste oder aber zur Ablehnung einer solchen Ergänzung Anlaß boten, so kann § 551 Abs. 2 RVO nF keine Anwendung finden (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl., Band II, S. 490 c; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 19 zu § 551). Dies rechtfertigt sich auch durch die Erwägung, daß § 551 Abs. 2 nicht dazu bestimmt sein kann, für solche Fälle eine Entschädigungspflicht zu begründen, in denen dem Versicherten infolge nicht ausreichender Rückwirkung der 6. BKVO kein Entschädigungsanspruch auf Grund dieser BKVO zusteht; wie im Kommentar von Lauterbach (aaO Anm. 11 zu § 551) mit Recht dargelegt wird, ist es nicht der Sinn des § 551 Abs. 2, mit seiner Hilfe die durch § 4 Abs. 2 der 6. BKVO abgegrenzte Rückwirkung dieser erst zwei Jahre zuvor erlassenen BKVO zu erweitern. Hätte der Gesetzgeber des UVNG diese Absicht verfolgt, so wäre eine besondere Hervorhebung in der Fassung des § 551 RVO nF bzw. in Art. 4 § 2 UVNG erforderlich gewesen. Das Bronchialasthma ist bereits in die Anlage zur 6. BKVO vom 28. April 1961 als BK Nr. 41 aufgenommen worden. Die Erkenntnisse, die zu dieser Ergänzung der BK-Liste geführt haben, konnten also zu der Zeit, als § 551 Abs. 2 RVO nF in Kraft trat, nicht mehr als "neue Erkenntnisse" angesehen werden. § 551 Abs. 2 RVO nF ist somit auf den hier zu beurteilenden Fall einer Erkrankung an Bronchialasthma nicht anzuwenden und kann schon unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten den Klageanspruch nicht stützen. Das LSG brauchte demnach zur Frage der beruflichen Verursachung des Bronchialasthmas im vorliegenden Fall keine weiteren Ermittlungen anzustellen.

Die Revision ist somit unbegründet und muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 296

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