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BSG Urteil vom 19.10.1971 - 6 RKa 24/70

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Leitsatz (amtlich)

Für den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst (BMV- Ärzte § 6 Abs 4) kommen nur geeignete Kassenärzte in Betracht.

Geeignet ist, wer mit praxisbezogener Sachkunde den typischen Notfallsituationen des Bereitschaftsdienstes in der Regel wenigstens mit Sofortmaßnahmen bis zum Einsetzen der normalen ärztlichen Versorgung gerecht zu werden vermag.

 

Normenkette

RVO § 368n Abs. 1 S. 1 Fassung: 1955-08-17; BMV-Ä § 6 Abs. 4

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 5. August 1970 aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 25. Juni 1969 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die 1919 geborene Klägerin ist Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten und in D als Kassenärztin zugelassen. Ihren Antrag auf Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst lehnte der Vorstand der Bezirksstelle O der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) durch Bescheid vom 20. Dezember 1968 ab. In ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie sei während des von ihr wahrgenommenen Bereitschaftsdienstes wiederholt in Situationen gekommen, in denen ihr die erforderlichen praktischen Erfahrungen für die sichere Diagnose und gezielte Dispositionen gefehlt hätten. Sie habe neunzehn Jahre lang keinen allgemein-medizinischen Fall behandelt, die Tätigkeit auf fachfremden Gebieten könne sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren.

Der Vorstand der Beklagten wies den Widerspruch durch Beschluß vom 21./22. Februar 1969 zurück: Die Klägerin könne aufgrund ihrer Berufsausbildung und Berufserfahrung im Rahmen des ärztlichen Bereitschaftsdienstes ebenso wie ein praktischer Arzt die erste Beurteilung eines Krankheitsbildes durchführen und die erforderlichen Maßnahmen selbst vornehmen oder die Einweisung in eine Klinik veranlassen. Der Umstand, daß die Klägerin seit 1955 nicht mehr allgemein-ärztlich tätig gewesen sei, rechtfertige keine Ausnahme.

Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Hannover die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte für verpflichtet erklärt, die Klägerin vom allgemein-ärztlichen Bereitschaftsdienst freizustellen: Bei der Entscheidung über die Freistellung vom Bereitschaftsdienst handele es sich um eine Ermessensentscheidung. Mit der Heranziehung der Klägerin habe die Beklagte die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschritten. Das Wissen und der Erfahrungsschatz der Klägerin reiche nicht aus, um eine Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Bereitschaftsdienst mit seiner Unberechenbarkeit und Vielfalt der Einsatzfälle auf allen medizinischen Fachgebieten zu garantieren.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Nach § 8 Abs. 1 Nr. 7 des Kammergesetzes für die Heilberufe, § 1 Abs. 2 der Satzung der Ärztekammer Niedersachsen und nach § 19 Abs. 1 der Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen sei jeder niedergelassene Arzt verpflichtet, am Notfalldienst teilzunehmen, sofern nicht wichtige Gründe der Beteiligung entgegenständen. Für Kassenärzte ergebe sich diese Verpflichtung außerdem aus § 368n Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), § 6 des Bundesmantelvertrages-Ärzte sowie aus den §§ 1 Abs. 7 und 8, 3 Abs. 1 des Arzt/Ersatzkassenvertrages. Der Heranziehung der Klägerin zum Bereitschaftsdienst stehe die Tatsache nicht entgegen, daß die Klägerin Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten sei. Denn sie besitze die fachliche Eignung zur Teilnahme am allgemeinen Bereitschaftsdienst. Es sei nicht Zweck dieses Bereitschaftsdienstes, eine optimale ärztliche Versorgung durch den diensttuenden Arzt zu sichern. Im Bereitschaftsdienst gehe es vor allem um die Beseitigung akuter Notstände, die der Bereitschaftsarzt entweder selbst oder unter Heranziehung des behandelnden oder eines anderen Arztes oder durch Einweisung des Erkrankten in ein Krankenhaus beheben könne. Zu dieser Tätigkeit genügten die in der Ausbildungszeit erworbenen Grundkenntnisse. Ein auf einer dermatologischen Klinik ausgebildeter Arzt sei befähigt, chronische Erkrankungen des Herzens, des Kreislaufs sowie einige Stoffwechselerkrankungen mitzubehandeln, da innerhalb des dermatologischen Bereichs auch akute Lungenembolien, Schlaganfälle und Herzinfarkte vorkämen. Die Klägerin habe vom 1. März 1952 bis zum 1. Juni 1954 eine regelrechte klinische Tätigkeit als Stationsärztin an einem Fachkrankenhaus für Hauterkrankungen ausgeübt. Die Klägerin sei auch befähigt, Maßnahmen anzuordnen (Hinzuziehung eines Arztes einer anderen Abteilung oder Verlegung der Patienten in eine andere Abteilung). Ein Arzt sei bei der Breite des medizinischen Wissensgebietes und der Zersplitterung in zahlreiche Spezialfächer kaum in der Lage, in allen nur erdenklichen Notfällen während des Bereitschaftsdienstes die erforderliche ärztliche Versorgung selbst durchzuführen. Von dem Bereitschaftsarzt würden nur Erstversorgungen und Sofortmaßnahmen zur Aufrechterhaltung vitaler Funktionen verlangt. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie trägt vor: Wenn das LSG zu dem Ergebnis gekommen sei, es sei nicht Zweck des Bereitschaftsdienstes, die optimale ärztliche Versorgung sicherzustellen, sondern nur akute Notstände zu beseitigen, die der Bereitschaftsarzt entweder selbst oder durch Heranziehung eines anderen Arztes oder durch Einweisung in ein Krankenhaus beheben könne, so stelle dies eine Verletzung des § 1 der Bundesärzteordnung sowie § 368g Abs. 1 RVO dar. Denn aus dieser Vorschrift sei abzuleiten, daß der ärztliche Notfalldienst in möglichst hohem Maße Gewähr dafür zu bieten habe, den Betreffenden die erste Hilfe zu geben, die dem heutigen Stand der ärztlichen Kunst entspreche. Mit der Einweisung in ein Krankenhaus sei es nicht getan, es seien vielmehr zahlreiche Fälle denkbar, in denen der Patient nur gerettet werden könne, wenn ihm unmittelbar durch den Arzt selbst ärztliche Hilfe zuteil werde. Bei einem Facharzt sei eine wissens- und erfahrungsmäßige Entfernung von dem allgemeinen Sachgebiet der Medizin eingetreten, insbesondere nach einer Zeit von neunzehn oder fünfzehn Jahren. Das Grundwissen des Facharztes sei ein fachspezifisches Grundwissen, das mit dem Grundwissen nicht gleichgesetzt werden könne, das für den Notfalldienst unerläßlich sei. Auch wenn alle Ärzte nach Abschluß ihrer Medizinalassistentenzeit über einen gleichen Bestand an medizinischem Standardwissen verfügten, so verlaufe jedoch die nachfolgende Entwicklung unterschiedlich je nach der eingeschlagenen Fachrichtung. Notfälle erforderten angesichts der möglichen Vielfalt der Symptome und der Eilbedürftigkeit der Entscheidung eine allgemeine Medizin- und Erfahrungsbreite, die die Klägerin als eine über neunzehn Jahre der allgemeinen Medizin entfremdete Ärztin nicht mehr habe.

Einer Heranziehung zum Bereitschaftsdienst stehe auch Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes entgegen, durch den die Gewissensfreiheit garantiert sei. Darüber hätte sich das Gericht notfalls durch eine Parteivernehmung Eindruck verschaffen müssen. Insoweit liege mangelhafte Sachaufklärung vor.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 5. August 1970 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hannover vom 25. Juni 1969 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG die Heranziehung der Klägerin zum allgemeinen kassenärztlichen Bereitschaftsdienst für rechtmäßig erachtet.

Im vorliegenden Fall hat die beklagte KÄV durch ihre Bezirksstelle den ärztlichen Bereitschaftsdienst in dem fraglichen Bezirk geregelt. Die Inanspruchnahme der Zuständigkeit für eine solche umfassende Regelung mag nicht unbedenklich sein, soweit sie über den kassenärztlichen Bereich hinausgeht, d.h. auch Nicht-Kassenärzte erfaßt. Soweit die KÄV jedoch Kassenärzte für den Bereitschaftsdienst heranzieht - die Klägerin ist Kassenärztin -, ist sie jedenfalls hierzu aufgrund ihres Auftrages nach § 368n Abs. 1 Satz 1 RVO, die nach § 182 RVO den Krankenkassen obliegende ärztliche Versorgung sicherzustellen, berechtigt und verpflichtet (vgl. Heinemann-Liebold-Heinemann, Kassenarztrecht, 4.Aufl., Bd. I, § 368n Anm.2). Hierauf gestützt bestimmt § 6 Abs. 4 des Bundesmantelvertrages-Ärzte ausdrücklich, daß die KÄV für Tage, an denen die Sprechstunden allgemein ausfallen, eine ausreichende Versorgung für dringende Fälle sicherstellt.

Aus den genannten Bestimmungen geht deutlich die Zielsetzung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes hervor, nämlich die ärztliche Versorgung der Versicherten und des mitversicherten Personenkreises auch für die Zeiten sicherzustellen, in denen die sonst für die ambulante ärztliche Versorgung zur Verfügung stehenden frei praktizierenden Ärzte regelmäßig nicht dienstbereit sind. Der das Kassenarztsystem beherrschende Grundgedanke, daß dem lebenswichtigen Interesse der versicherten Bevölkerung an ausreichender ärztlicher Versorgung sachgemäß entsprochen werden soll, schließt in sich ein, daß das Bedürfnis mit geeigneten Mitteln befriedigt wird. Zwar ist nicht zu übersehen, daß die Bereitstellung eines ärztlichen Notfalldienstes auch die Gruppen- und Individualinteressen der beteiligten Ärzte berührt. Ihr allgemeiner berechtigter Wunsch nach Freizeit und Erholung gebietet, daß die Last der Beteiligung am ärztlichen Bereitschaftsdienst unter Beachtung des Gerechtigkeitspostulats von allen, die dafür infrage kommen, ohne Bevorzugung oder Benachteiligung der einen oder der anderen Gruppe getragen wird. Unter diesem Gesichtspunkt stehen Fragen der Zumutbarkeit und des Gewissenskonflikts - vom betroffenen Arzt aus gesehen- im Vordergrund (vgl. BVerwG 27, 303). Vorrangig jedenfalls für die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung ist jedoch die Eignung des Kassenarztes, wobei allerdings einzuräumen ist, daß die Gründe, die eine ärztliche Gewissensentscheidung auf Befreiung vom ärztlichen Notfalldienst rechtfertigen, nicht selten sich mit denen berühren, die die fehlende Eignung des Arztes für den Notfalldienst erweisen (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 2. Dezember 1970 in NJW 1971, 1099, das unter Berufung auf Martens, NJW 1970, 494, 496 die Verpflichtung eines Facharztes für Orthopädie zur Beteiligung am Notfalldienst einer Bezirksärztekammer unter dem von diesem Arzt zur Begründung seines Gewissenskonflikts vorgetragenen Gesichtspunkt geprüft hat, er sei für Aufgaben des ärztlichen Notfalldienstes ungeeignet, da in diesem Falle der Sinn des ärztlichen Notfalldienstes, Kranken Hilfe zu leisten, in sein Gegenteil verkehrt würde).

Die Mindesterfordernisse für die Qualifikation eines Kassenarztes für den Bereitschaftsdienst ergeben sich aus der Aufgabe. Sicher ist, daß im Rahmen des ärztlichen Notfalldienstes keine optimale ärztliche Versorgung erwartet werden kann. Die Hilfe des Bereitschaftsarztes muß jedoch in dem Sinne effektiv sein, daß sie zum mindesten den typischen Notfallsituationen des ärztlichen Alltags abzuhelfen vermag. Dabei genügt es nicht, daß der zur Verfügung stehende Bereitschaftsarzt "immer noch besser als ein Laie" ärztliche Hilfe zu leisten imstande ist. Wer in "dringenden Fällen" - hierfür ist der Notfalldienst bestimmt (vgl. § 6 Abs. 4 des Bundesmantelvertrages-Ärzte) - um ärztlichen Beistand angegangen wird, und zwar nicht selten in Situationen, in denen sofortiges ärztliches Eingreifen geboten ist, muß zur unmittelbaren ärztlichen Hilfe befähigt sein. Diese Eignung in der für den allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienst notwendigen Bandbreite ist regelmäßig nur bei Ärzten gegeben, die aufgrund eigener Praxis über ein umfassendes Sachwissen und entsprechende Erfahrung verfügen. Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß in dem Maße, wie der ärztliche Notfalldienst nach Fachbereichen gegliedert bereitgestellt werden kann, auch das spezielle Fachwissen differenziert zu diesem Dienst herangezogen werden kann. Soweit aber nach den Umständen eine solche Aufgliederung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes nicht möglich ist, d.h. nur ein allgemeiner ärztlicher Bereitschaftsdienst durchgeführt wird, sind für diesen Bereitschaftsdienst nur Ärzte geeignet, die mit praxisbezogener Sachkunde den typischen Notfallsituationen des Bereitschaftsdienstes in der Regel wenigstens mit Sofortmaßnahmen bis zum Einsetzen der normalen ärztlichen Versorgung gerecht zu werden vermögen.

Entspricht diesem Leitbild auch am besten der praktische Arzt oder der Arzt für Allgemeinmedizin, der deshalb - abgesehen von solchen in seiner Person liegenden Gründen wie Alter, Krankheit, Gebrechen - regelmäßig als Bereitschaftsarzt geeignet ist, so bedeutet das jedoch keinesfalls, daß bestimmte Facharztgruppen schlechthin mangels Eignung vom allgemeinen ärztlichen Notfalldienst ausgeschlossen sind. Es kann durchaus sein, daß ein Facharzt mit einem Fachbereich, der im allgemeinen nicht das für einen allgemeinen ärztlichen Notfalldienst erforderliche Erfahrungswissen vermittelt, nach seinem persönlichen Werdegang dennoch für diesen Dienst geeignet ist. Wenn die zur Regelung des Notfalldienstes berufene Körperschaft allgemein von der Heranziehung bestimmter Facharztgruppen absieht (vgl. den Hinweis in BVerwG 27, 303, 307f auf die Freistellung ganzer Gruppen von Fachärzten vom allgemeinen Notfalldienst in einem bestimmten Bezirk), so kann eine solche Regelung aus Gründen der Praktikabilität gerechtfertigt sein. Grundsätzlich bleibt jedoch festzuhalten, daß die Eignung eines Kassenarztes für den von seiner KÄV geregelten Notfalldienst individuell geprüft werden muß.

Im vorliegenden Fall ergibt die Prüfung, daß die Klägerin für den allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienst, zu dem sie herangezogen wurde, nicht geeignet ist. Sie ist seit 1955 als Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten in eigener Praxis tätig. Vorher war sie vom 1. März 1952 bis zum 1. Juni 1954 als Stationsärztin in einem Fachkrankenhaus für Hautkrankheiten tätig. Ihre letzten praktischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin reichen im wesentlichen in ihre Medizinalassistentenzeit vor dem 1. März 1952 zurück. Berücksichtigt man weiterhin, daß das dermatologische Fachgebiet von spezifischer Eigenart ist, so muß davon ausgegangen werden, daß die noch nicht durch eigene Praxis gefestigten allgemein-medizinischen Kenntnisse der Klägerin aus einer beinahe zwanzig Jahre zurückliegenden Zeit einem spezifischen Fachwissen Platz gemacht haben, jedenfalls aber nicht die mit den Fortschritten der medizinischen Wissenschaft notwendige Vertiefung und Erweiterung erfahren haben, wie sie für eine sachgerechte ärztliche Versorgung der versicherten Bevölkerung in den im Rahmen eines allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienstes zu bewältigenden Notfällen unerläßlich ist.

Auf die Revision mußte daher das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das zutreffende Urteil des SG zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 165

NJW 1972, 357

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