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BSG Urteil vom 11.02.1976 - 7 RAr 20/74

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Orientierungssatz

Zur Frage, ob eine Arbeitslose, die nur in der Zeit von 17 Uhr bis 23 Uhr (Hausfrauenspätschicht) arbeiten kann, dem Arbeitsmarkt gemäß AFG § 103 Abs 1 zur Verfügung steht.

 

Normenkette

AFG § 103 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1969-06-25, S. 2 Hs. 1 Fassung: 1969-06-25; AVAVG § 76 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägerinnen auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerinnen begehren Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit ihrer Arbeitslosigkeit in den Monaten Januar bis Mai 1971. Die Beklagte ist der Auffassung, daß die Klägerinnen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung standen, weil sie nur von 17,00 bis 23,00 Uhr arbeiten konnten.

Die 1939 geborenen verheirateten Klägerinnen waren von September 1968 bis Januar 1971 - die Klägerin zu 1) mit einer Unterbrechung von Mai 1969 bis September 1969 - als Werkarbeiterinnen in der Hausfrauenabendschicht der H Textilwerke GmbH, Werk V, von 17,45 Uhr bis 23,00 Uhr beschäftigt. Der Arbeitgeber der Klägerinnen setzte dann die Zahl der Arbeitsplätze in der Hausfrauenspätschicht von etwa 14 auf etwa 3 bis 5 herab. Er kündigte ihre Beschäftigungsverhältnisse, und zwar das der Klägerinnen zu 1) und 2) zum 27. Januar 1971 und das der Klägerin zu 3) zum 1. Februar 1971. Die Klägerinnen meldeten sich arbeitslos und erklärten sich bereit, Beschäftigungen mit einer Arbeitszeit von 17,00 bis 23,00 Uhr anzunehmen.

Sie haben jeweils 2 Kinder, die in den Jahren 1961 bis 1966 geboren sind. Die Ehemänner erklärten, daß sie während der Arbeitszeit ihrer Ehefrauen in der Lage seien, die Kinder zu betreuen.

Zum 5. Mai 1971 nahmen die Klägerinnen eine Beschäftigung bei einer Weberei in L auf, kündigten aber am 10. Mai 1971 mit Wirkung zum gleichen Tage, weil sie bei Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses wegen der schlechten Verkehrsverhältnisse etwa von 16,45 Uhr bis 24,00 Uhr von zu Hause abwesend gewesen wäre. Am 5. Juni 1971 nahmen sie Arbeit bei der Firma D in V auf. Sowohl in der Weberei in L wie auch bei der Firma D in V wurden die Klägerinnen in der Hausfrauenspätschicht beschäftigt.

Die Beklagte lehnte die Anträge der Klägerinnen zu 1) und 2) auf Gewährung von Alg ab (Bescheide vom 4. Februar und 11. Februar 1971; Widerspruchsbescheide vom 14. April und 7. April 1971) und entzog der Klägerin zu 3) das zunächst bewilligte Alg (Bescheid vom 10. März 1971; Widerspruchsbescheid vom 19. April 1971). Sie vertrat die Auffassung, daß die Beschäftigung in der Hausfrauenspätschicht nicht den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entspreche.

Das Sozialgericht (SG) hat die Streitsachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und Auskünfte der Stadtverwaltung V, des Arbeitsamtes L, der Industrie- und Handelskammer für Niederbayern, des Gewerbeaufsichtsamtes L, ferner der Firmen S, D, F & Sohn OHG und H GmbH, alle in V, eingeholt. Von der Firma D hat das SG die Auskunft erhalten, daß eine Hausfrauenschicht eingerichtet sei und ca. 25 Arbeitsplätze ständig besetzt seien. Weitere 10 bis 20 Arbeitsplätze könnten besetzt werden, doch fehlten Interessentinnen. Diese Arbeitsplätze hätten auch bereits im Jahre 1971 bestanden. Weitere Arbeitsplätze in der Hausfrauenspätschicht bestanden nach den Ermittlungen des SG bei den Firmen R und H.

Das SG hat mit Urteil vom 13. September 1972 die Beklagte zur Gewährung von Alg an die Klägerinnen verurteilt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 19. Dezember 1973 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und ausgeführt: Wohl stehe derjenige nicht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung. der zwar in mehr als geringfügigem Umfang, aber nicht für die übliche Dauer der Arbeitszeit beschäftigt werden könne, jedoch ergebe sich die Verfügbarkeit der Klägerinnen daraus, daß die Lage der Arbeitszeit, für die sich die Klägerinnen bereitgehalten hätten, den üblichen Bedingungen des örtlichen Arbeitsmarktes entspräche.

Den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes i. S. d. § 103 Abs. 1 Nr. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) entspreche eine Beschäftigung dann, wenn Arbeitsverhältnisse unter diesen Bedingungen in nennenswertem Umfang eingegangen zu werden pflegten. Dabei sei die strukturelle Verfassung des allgemeinen Arbeitsmarktes und seine Entwicklung zu beachten. Die üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes könnten örtlich und branchenmäßig Verschiedenheiten aufweisen; sie unterlägen im Laufe der Zeit einem Wandel, der ebenfalls zu berücksichtigen sei. Es komme also auf die örtlichen, zeitlichen, branchenmäßigen und unter Umständen für weibliche und männliche Arbeitnehmer unterschiedlichen Gepflogenheiten auf dem Arbeitsmarkt an.

Die dazu vom SG angestellten Ermittlungen hätten ergeben, daß die Arbeitszeit, während der die Klägerinnen arbeiten könnten, jedenfalls an ihrem Wohnort und bisherigen Beschäftigungsort innerhalb der dort üblichen Arbeitsschichten für Frauen gelegen hätten. Die Firmen S und H GmbH, R & Sohn sowie D hätten in ihren Betrieben in V. Wechselschichten eingerichtet, von denen die zweite Schicht jeweils um 23,00 Uhr (in einem Fall um 22,15 Uhr) geendet habe. Die Ermittlungen hätten sogar ergeben, daß noch Arbeitsplätze unter den von den Klägerinnen eingeräumten Bedingungen offen gewesen und mangels Angebot an Arbeitskräften nicht hätten besetzt werden können. So hätten schließlich auch die Klägerinnen aufgrund eigener Bemühungen und ohne Vermittlung des Arbeitsamtes solche Arbeitsplätze wieder erhalten.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 103 AFG und führt insbesondere aus:

Das LSG habe in tatsächlicher Hinsicht lediglich festgestellt, daß noch Arbeitsplätze, wie die Klägerinnen sie gesucht hätten, offen gewesen seien und daß die Klägerinnen aufgrund eigener Bemühungen und ohne Vermittlung des Arbeitsamtes wieder solche Arbeitsplätze gefunden hätten. Wenn das LSG bei Zugrundelegung dieser Feststellungen das Vorhandensein einer nennenswerten Anzahl in Betracht kommender Arbeitsplätze bejaht habe, gehe es von einem Begriff des "Nennenswerten" aus, der mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht übereinstimme. Um den Begriff des "Nennenswerten" auszufüllen, seien Feststellungen über einige für die Klägerinnen in Betracht kommende Arbeitsplätze unzureichend. Daraus könne keinesfalls auf eine, wie vom BSG geforderte "beachtliche Zahl" geschlossen werden, "aus der eine bestimmte Übung gefolgert werden könne".

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Landshut vom 13. September 1972 die Klage abzuweisen.

Die Klägerinnen beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig, jedoch unbegründet. Zu Recht hat das LSG den Anspruch der Klägerinnen auf Alg für die Zeit bejaht, um die die Beteiligten streiten, also für die Zeit der Arbeitslosigkeit, über die durch die Bescheide der Beklagten entschieden worden ist.

Nach § 100 AFG hat Anspruch auf Alg, wer arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, die Anwartschaftszeit erfüllt, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alg beantragt hat. Diese Voraussetzungen sind unter den Beteiligten mit Ausnahme der Verfügbarkeit unstreitig. Nach § 103 Abs. 1 AFG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf, sowie bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen, die er ausüben kann. Daß die Klägerinnen das subjektive Merkmal der Verfügbarkeit erfüllten, nämlich die ernstliche Bereitschaft zur Ausübung einer üblichen Beschäftigung, ist zwischen den Beteiligten nicht im Streit und angesichts der andauernden. nur durch eine kurzfristige Arbeitslosigkeit unterbrochenen Tätigkeit der Klägerinnen nicht zu bezweifeln.

Aber auch die objektive Verfügbarkeit der Klägerinnen war gegeben. Der Begriff "allgemeiner Arbeitsmarkt" umfaßt, wie der erkennende Senat (BSGE 11, 16) ausgeführt hat, den räumlichen und den fachlichen Bereich. Fachlich erstreckt sich der allgemeine Arbeitsmarkt auf den Kreis der Beschäftigungen, für die der Arbeitslose, ohne Einschränkung auf seinen Beruf, in Betracht kommt. In räumlicher Hinsicht umfaßt er grundsätzlich den gesamten Geltungsbereich des AFG. Die Vermittlungsbemühungen der Beklagten haben sich nicht etwa nur auf den Wohnort des Arbeitslosen, sondern auf das gesamte Bundesgebiet zu erstrecken. Wenn es allerdings im Einzelfall an der Fähigkeit des Arbeitslosen fehlt, überörtlich, überbezirklich oder wo auch immer im Bundesgebiet vermittelt zu werden, schrumpft der allgemeine Arbeitsmarkt räumlich auf das Gebiet zusammen, das der Arbeitslose erreichen kann. Diese sogenannte "Ausgleichsfähigkeit" ist für den Umfang des allgemeinen Arbeitsmarktes maßgebend, weil Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nur zu gewähren sind, wenn überhaupt die Möglichkeit besteht, den Arbeitslosen wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern, wenn also seine Arbeitslosigkeit lediglich in Ermangelung offener Arbeitsstellen nicht beendet werden kann (BSG SozR Nr. 12 zu § 76 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -; BSG ABA 1971, 325; Urteil des Senats vom 19.12.1973 - 7 RAr 10/72 -). Da die Klägerinnen sich wegen der Betreuung von Kindern nur eine beschränkte Zeit von ihrer Wohnung in V. entfernen konnten, ist davon auszugehen, daß sie nur in V. und in Orten arbeiten können, die in verhältnismäßig kurzer Zeit zu erreichen sind. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, daß das LSG seine Prüfung, welche Beschäftigung den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entsprach, nur auf diesen Bezirk ausgedehnt hat. Daß das LSG den Begriff des "allgemeinen Arbeitsmarktes" verkannt hat, soweit ihm durch die Eignung der Klägerinnen in fachlicher Hinsicht Grenzen gesetzt sind, ist nicht ersichtlich. Es ist, ohne dies weiter zu erörtern, erkennbar davon ausgegangen, daß die Klägerinnen nur für Arbeiten in Frage kamen, für die eine besondere Vorbildung nicht gefordert wurde.

Zu Recht hat das LSG auch ausgeführt, daß der Arbeitsvermittlung derjenige nicht zur Verfügung steht, der zwar in mehr als geringfügigem Umfange, aber nicht für die übliche Lage und Verteilung der Arbeitszeit beschäftigt werden könne. Wie es richtig dargelegt hat, durfte schon nach § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG die Verfügbarkeit eines Arbeitslosen nicht mit der Begründung verneint werden, die Dauer der Arbeitszeit, für die er sich bereit erklärt habe, entspreche nicht den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, wenn er eine Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange ausüben konnte. Daß diese Vergünstigung sich nur auf die Arbeitszeitdauer bezog, war unter der Geltung des § 76 AVAVG anerkannt (BSG 11, 16; 12, 226 und 17, 164). Wie die Materialien zum AFG ergeben, sollte der bisherige Rechtszustand nicht geändert, sondern lediglich eine Formulierung gewählt werden, die verständlicher sei (Bundestags-Drucks. V/2291, III, 6 a; V/4110 zu § 94 Abs. 1). Auch unter der Geltung des AFG hat das BSG daher an seiner früheren Rechtsprechung zum AVAVG festgehalten (Urteil vom 19.12.1973 - 7 RAr 10/72 -). Das LSG hatte demnach zu prüfen, ob die Zeit, zu der die Klägerinnen werktäglich ihre Arbeitsleistungen anboten, den Bedingungen des allgemeinen - und für sie erreichbaren - Arbeitsmarktes entsprach. "Übliche Bedingungen" i. S. d. "allgemeinen Arbeitsmarktes" brauchen nicht in der Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse vorzuliegen, müssen aber in einer beachtlichen Zahl gegeben sein, aus der eine entsprechende Übung entnommen werden kann. Um zu erkennen, ob eine solche besteht, dürfen nicht nur die jeweils räumlich und zeitlich durchgeführten Ermittlungen statistisch erfaßt werden, sondern zu berücksichtigen ist auch, in welchem zahlenmäßigen Umfang Arbeitsverhältnisse dieser Art überhaupt vorhanden sind. Dabei ist die Entwicklung zu berücksichtigen, die der Arbeitsmarkt nimmt (BSGE 11, 16, 20, 21). Das LSG hat dazu in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß allein in V. vier Firmen Arbeitsschichten zu den Zeiten eingerichtet hatten, für die die Klägerinnen Arbeit suchten und daß zu der Zeit, als von der Beklagten die Verfügbarkeit der Klägerinnen verneint wurde, für die Klägerinnen Arbeitsplätze vorhanden waren, die nicht besetzt werden konnten. Das LSG ist damit von der Richtigkeit der Auskünfte ausgegangen, die dem SG erteilt worden sind. An diese Feststellungen ist das Revisionsgericht gebunden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Wirksame Revisionsrügen sind gegen diese Feststellungen nicht erhoben worden. Wenn das LSG aus diesen Umständen den rechtlichen Schluß gezogen hat, daß die Arbeitszeit, zu der die Klägerinnen ihre Dienste anboten, den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entsprachen, so hat es diesen Begriff nicht verkannt. Nach den Auskünften, die das SG erhalten hatte und von denen das LSG in tatsächlicher Hinsicht ausgegangen ist, bestanden allein bei der Firma D noch 1972, also zu einer Zeit, zu der die Klägerinnen bereits wieder in Arbeit waren, noch 35 bis 45 Arbeitsplätze, wie sie die Klägerinnen gesucht hatten, von denen 10 bis 20 mangels Arbeitskräften unbesetzt blieben. Daneben hatte auch die Firma R zwei derartige Arbeitsplätze zu besetzen. Zudem hatten die Klägerinnen nach den Feststellungen des LSG sich nach drei Monaten Arbeitslosigkeit in für sie erreichbarer Nähe ihrem Wunsch entsprechende Arbeitsstellen gesucht. Die Auffassung des LSG, daß Arbeitsplätze, wie sie von den Klägerinnen gewünscht wurden, in beachtlicher Zahl vorhanden waren, hat damit eine ausreichende Grundlage. Das LSG hat den Begriff der "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" nicht deshalb verkannt, weil es die Zahl der unbesetzt gebliebenen Arbeitsstellen mit dem, was auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich ist, in Beziehung gebracht hat. Sind für die Arbeit, wie sie von dem Arbeitslosen angeboten wird, auf dem räumlichen Markt, dem der Betreffende zur Verfügung steht, mehr Arbeitsplätze vorhanden als besetzt werden können, so kann das durchaus einen Hinweis darauf geben, daß die Bedingungen, zu der der Arbeitslose tätig zu werden in der Lage ist, üblich sind. Nach allem ist die Revision der Beklagten unbegründet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647785

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