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BGH Urteil vom 29.11.2018 - 3 StR 300/18

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Verfahrensgang

LG Bückeburg (Urteil vom 07.02.2018)

 

Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 7. Februar 2018 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht von der Anordnung der Sicherungsverwahrung und deren Vorbehalt abgesehen hat.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht in vier Fällen, jeweils in Tateinheit mit Herstellen einer kinderpornographischen Schrift, davon in drei Fällen zudem in Tateinheit mit sexuellem Übergriff (Fälle II. 1., 3. und 4. der Urteilsgründe), davon in zwei Fällen zudem in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (Fälle II. 1. und 4. der Urteilsgründe) und in einem Fall zudem in Tateinheit mit Vergewaltigung und schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern in Form des Eindringens in den Körper (Fall II. 2. der Urteilsgründe) sowie wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Zugänglichmachen einer Bildaufnahme (Fall II. 5. der Urteilsgründe) unter Einbeziehung der Strafe aus einer früheren Verurteilung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat es abgesehen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer wirksam auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkten und auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Rz. 2

Nach den Feststellungen missbrauchte der Angeklagte in zwei Fällen seine elfjährige Tochter, indem er die Hand des schlafenden Kindes ergriff, an seinen entblößten erigierten Penis führte und sie auf und ab bewegte (Fälle II. 1. und 4. der Urteilsgründe). Darüber hinaus führte er bei einer elfjährigen Freundin seiner Tochter, während diese schlief, eine ca. zehn Zentimeter lange „Knicklampe” mit einem Durchmesser von ca. fünf Millimetern sowie einen Finger einige Zentimeter tief in die Scheide ein (Fall II. 2. der Urteilsgründe). An einem anderen Tag hielt der Angeklagte einer ebenfalls schlafenden zehnjährigen Freundin der Tochter zunächst sein entblößtes Glied vor das Gesicht und dann seine Finger so, als ob er einen Finger in den Anus des Kindes einführte, was er allerdings tatsächlich nicht tat (Tat II. 3. der Urteilsgründe). In allen Fällen filmte der Angeklagte, der zuvor eine nicht feststellbare Menge Amphetamin und Marihuana konsumiert hatte, das Geschehen, um es in das Internet einzustellen. Von diesem Vorhaben nahm er jeweils später Abstand. Die Kinder bemerkten – worauf es dem Angeklagten auch ankam – das Geschehen nicht. Psychische oder physische Beeinträchtigungen durch das Tatgeschehen konnten bisher bei keinem der Mädchen festgestellt werden. Schließlich übersandte der Angeklagte einem Chatpartner ein Foto der elfjährigen Freundin seiner Tochter, das er während ihres Schlafs aufgenommen hatte (Tat II. 5. der Urteilsgründe).

 

Entscheidungsgründe

II.

Rz. 3

1. Die Beschränkung des Rechtsmittels auf die unterbliebene Anordnung der Sicherungsverwahrung in jeder in Betracht kommenden Form ist wirksam. Grundsätzlich ist eine Beschränkung der Revision auf das Unterlassen einer Maßregelanordnung möglich; dies gilt auch für die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung. Zwischen Strafe und Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung besteht aufgrund der Zweispurigkeit des Sanktionensystems grundsätzlich keine Wechselwirkung (vgl. etwa BGH, Urteil vom 24. Mai 2018 – 4 StR 643/17, NStZ-RR 2018, 305, 306 mwN). Etwas anderes ist nur dann anzunehmen, wenn das Tatgericht die Höhe der Strafe von der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung abhängig gemacht und damit Strafe und Maßregel in einen inneren, eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließenden Zusammenhang gesetzt hat (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 2013 – 3 StR 148/13, juris Rn. 2). Das ist hier nicht der Fall.

Rz. 4

2. Das Rechtsmittel hat auch Erfolg. Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob das Landgericht ohne Rechtsfehler von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat. Denn das Urteil hält revisionsgerichtlicher Überprüfung schon deshalb nicht stand, weil die Strafkammer es unterlassen hat zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1 StGB vorliegen. Im Einzelnen:

Rz. 5

a) Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB als erfüllt angesehen. Es hat indes – sachverständig beraten – einen Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB nicht zweifelsfrei feststellen können, ohne allerdings in den Blick zu nehmen, ob dessen Vorliegen wahrscheinlich im Sinne des § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB ist.

Rz. 6

aa) Das Merkmal des Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Das Vorliegen eines solchen Hangs hat der Tatrichter unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände darzulegen. Diese Würdigung bedarf in den Fällen von § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB, bei denen Vortaten und Vorverbüßungen fehlen, besonderer Sorgfalt. Sie obliegt – nach sachverständiger Beratung – dem erkennenden Richter selbst (vgl. BGH, Urteil vom 15. Februar 2011 – 1 StR 645/10, NStZ-RR 2011, 204; Beschlüsse vom 2. August 2011 – 3 StR 208/11, juris Rn. 5; vom 30. März 2010 – 3 StR 69/10, NStZ-RR 2010, 203).

Rz. 7

bb) Vorliegend hat die Strafkammer ausgeführt, dass zwar eine Reihe von Umständen, wie seine Paraphilie und die vom Sachverständigen diagnostizierte dissoziale Persönlichkeitsstörung, für einen Hang des Angeklagten spreche. Auch die Vorverurteilung wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften im Jahr 2009 hat sie in ihre Erwägungen eingestellt. Im Ergebnis ihrer Prüfung ist sie aber zu der Bewertung gelangt, letztlich ein eingeschliffenes Verhaltensmuster nicht zu erkennen. Allerdings hat das Landgericht einen Hang des Angeklagten zur Begehung den Anlasstaten ähnlicher Delikte nicht gänzlich ausgeschlossen. Vielmehr ist es aufgrund der gutachterlichen Stellungnahme, wonach das Vorliegen eines Hanges „nicht eindeutig gesichert sei”, lediglich zu der am Zweifelssatz orientierten Bewertung gelangt, ein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB könne – trotz des Vorliegens der genannten Persönlichkeitsauffälligkeiten, die für einen solchen sprächen – nicht sicher festgestellt werden.

Rz. 8

Auf dieser Grundlage hätte sich das Landgericht aber mit der naheliegenden Frage auseinandersetzen müssen, ob ein Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten nicht jedenfalls wahrscheinlich vorliegt, so dass eine Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in Betracht zu ziehen wäre. Denn anders als § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB fordert der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht die sichere Feststellung eines solchen Hanges, sondern lässt es sowohl in Bezug hierauf als auch hinsichtlich der hangbedingten Gefährlichkeit ausreichen, dass deren Vorliegen zwar nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, aber wahrscheinlich ist (BGH, Beschluss vom 19. Juli 2017 – 4 StR 245/17, BGHR StGB § 66a Abs. 1 Nr. 3 nF Voraussetzungen 1 mwN).

Rz. 9

b) Einem Vorbehalt der Sicherungsverwahrung stünde entgegen der Auffassung der Strafkammer auch eine mangelnde Erheblichkeit möglicherweise zu erwartender weiterer Straftaten nicht entgegen.

Rz. 10

aa) Erhebliche Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB sind nach ständiger Rechtsprechung solche, die den Rechtsfrieden empfindlich stören. Dabei kann zur Beurteilung der Erheblichkeit der hangbedingt zu erwartenden Taten kein genereller Maßstab angelegt werden; erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalles, bei der neben der Schwere der zu erwartenden Taten und den – auch nur potentiell bzw. typischerweise eintretenden – Folgen für die Opfer etwa die Tathäufigkeit oder die Rückfallgeschwindigkeit ins Gewicht fallen können (vgl. BGH, Urteile vom 24. Mai 2018 – 4 StR 643/17, NStZ-RR 2018, 305, 306; vom 24. März 2010 – 2 StR 10/10, NStZ-RR 2010, 239, 240; vom 18. Februar 2010 – 3 StR 568/09, NStZ-RR 2010, 172). Kriterien ergeben sich zunächst aus den gesetzgeberischen Wertungen, die maßgeblich für die Normierung der formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung geworden sind. Als erhebliche Straftaten kommen danach vornehmlich solche in Betracht, die in den Deliktskatalog von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a bis c StGB fallen und die im konkreten Fall mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu ahnden wären, wobei dieser Gesichtspunkt allein zur Annahme der Erheblichkeit allerdings nicht ausreicht (vgl. BGH, Beschluss vom 28. November 2002 – 5 StR 334/02, NStZ-RR 2003, 73, 74; LK/Rissing-van Saan/Peglau, StGB, 12. Aufl., § 66 Rn. 148 ff.; MüKoStGB/Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern, 3. Aufl., § 66 Rn. 101). Ein weiterer entscheidender Maßstab zur Bestimmung der Erheblichkeit ergibt sich aus der Hervorhebung der schweren seelischen oder körperlichen Schädigung der Opfer in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB (vgl. MüKoStGB/Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern aaO, § 66 Rn. 98, 103 f.; LK/Rissing-van Saan/Peglau aaO, § 66 Rn. 149), wobei das Gesetz durch die Verwendung des Wortes „namentlich”, welches der Wortbedeutung und dem Sinne nach wie „beispielsweise” oder „vor allem” zu verstehen ist, zum Ausdruck bringt, dass mit der Nennung solcher Folgen keine abschließende Festlegung verbunden ist; damit sollen vielmehr lediglich Straftaten von geringerem Schweregrad ausgeschieden werden (vgl. BGH, Urteile vom 24. Mai 2018 – 4 StR 643/17, NStZ-RR 2018, 305, 306; vom 27. Juli 2017 – 3 StR 196/17, juris Rn. 10; jeweils mwN).

Rz. 11

bb) Gemessen hieran hat das Landgericht die Erheblichkeit der gegebenenfalls hangbedingt zu erwartenden Straftaten nicht rechtsfehlerfrei verneint. Es hat lediglich darauf abgestellt, dass die Opfer bei Vornahme der sexuellen Übergriffe durch den Angeklagten schliefen und deshalb – wie es dem Tatplan des Angeklagten entsprach – von den Missbrauchstaten nichts bemerkten. Zu körperlichen oder seelischen Schäden sei es deshalb auch bei keiner der Geschädigten gekommen. Damit hat die Strafkammer sich allein auf die Prüfung beschränkt, ob vom Angeklagten künftig die Gefahr ausgehen wird, Straftaten zu begehen, die zu körperlichen oder seelischen Schäden führen können. Es hat aber nicht die für die Erheblichkeitsprüfung erforderliche Gesamtwürdigung vorgenommen, in die vorliegend nicht nur die Zahl der Taten, sondern auch der Umstand einzubeziehen gewesen wäre, dass es sich jedenfalls in vier Fällen um Taten im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a StGB handelte, wobei der Angeklagte die Missbrauchstaten jeweils in qualifizierter Form nach § 176a Abs. 3, teilweise auch nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB beging.

Rz. 12

3. Das Landgericht hätte mithin die Voraussetzungen einer in seinem Ermessen stehenden Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1 Nr. 3 StGB prüfen müssen. Der Senat hat die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung insgesamt mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, um dem neu zur Entscheidung berufenen Gericht – gegebenenfalls unter Beiziehung eines anderen Sachverständigen – eine in sich stimmige und widerspruchsfreie Entscheidung hinsichtlich der Maßregel zu ermöglichen.

 

Unterschriften

Schäfer, Spaniol, Berg, Hoch, Leplow

 

Fundstellen

Haufe-Index 13007043

NStZ-RR 2019, 140

StV 2020, 16

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