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BGH Urteil vom 15.08.2007 - 2 StR 309/07

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Verfahrensgang

LG Koblenz (Urteil vom 02.02.2007)

 

Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 2. Februar 2007 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Gründe

Rz. 1

Das Landgericht hat es im Sicherungsverfahren abgelehnt, die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.

Rz. 2

Die Ablehnung der Unterbringungsanordnung hält der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand. Die Begründung der für den Beschuldigten günstigen Gefährlichkeitsprognose enthält einen Wertungsfehler und die Gesamtwürdigung der Vor- und Anlasstaten lässt einen wesentlichen Tatumstand außer Betracht.

Rz. 3

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt:

Rz. 4

a) Der Beschuldigte neigt aufgrund seiner psychischen Erkrankung zur Distanzlosigkeit und überschreitet allgemein anerkannte soziale Grenzen. Es kommt immer wieder zu Belästigungen seines sozialen Umfelds, wofür der Beschuldigte insbesondere unter türkisch-stämmigen Bewohnern weithin bekannt ist. Seine Umgebung weiß vielfach mit den krankheitsbedingten Besonderheiten des Beschuldigten und den sich hieraus ergebenden irrationalen Verhaltensmustern umzugehen. Aufgrund der Nichteinhaltung der ärztlich verordneten Medikation, teilweise verstärkt durch Alkoholgenuss, kam es von Herbst 2005 bis August 2006 zu folgenden Vorfällen:

  • In einem Waschsalon nahm der Beschuldigte fremde Wäsche aus einem Trockner mit und warf sie weg (Fall 1).
  • In 15 Fällen missachtete er das Hausverbot in einer Spielothek und in sechs Fällen in einem Einkaufscenter; dabei entleerte er in einem Fall einen Feuerlöscher in die Spielothek, in einem weiteren Fall wurde er von der Aufsicht zum Verlassen der Spielothek aufgefordert. Daraufhin erhob er die Faust und holte zu einem Faustschlag in Richtung der Aufsicht aus. Ein anwesender Zeuge konnte den Arm des Beschuldigten festhalten, so dass die Aufsicht nicht getroffen wurde (Fälle 2, 7-26).
  • In einer Gaststätte wollte sich der Beschuldigte 50 Euro leihen. Als der Gastwirt dies verweigerte, zog der Beschuldigte beim Hinausgehen aus Verärgerung den Türschlüssel ab und warf ihn auf die Straße. Der Gastwirt ging davon aus, der Beschuldigte habe den Schlüssel mitgenommen, verfolgte ihn mit einem Begleiter und forderte lautstark die Rückgabe seines Schlüssels. Der Beschuldigte beteuerte zutreffend, er habe den Schlüssel nicht. Auf die nachdrückliche Forderung, den Schlüssel herauszugeben, reagierte der Beschuldigte ebenfalls laut und verbal aggressiv. Er fühlte sich in die Enge getrieben, zog ein Messer heraus und rief in Richtung des Gastwirts auf Türkisch: „Lass mich in Ruhe, ich bringe dich um, ich habe deinen Schlüssel nicht gestohlen.” Daraufhin ließ der Gastwirt von dem Beschuldigten ab und ließ die Polizei verständigen (Fall 3).
  • In einer Bäckerei begann der Beschuldigte, Kunden anzupöbeln. Als ihn die Verkäuferin aus dem Laden wies, beschimpfte er sie als „Arschloch”, „Schlampe”, „Hure”. Als die Verkäuferin ihm ausdrücklich Ladenverbot erteilte, setzte er seine Verbalattacken fort. Auf die erneute Mahnung, den Laden zu verlassen, rammte er sein Knie in Richtung des Unterleibs der Verkäuferin. Diese drehte sich jedoch von dem Beschuldigten weg, so dass er lediglich ihren Oberschenkel schmerzhaft traf. Weitere Verletzungen entstanden nicht (Fall 4).
  • In zwei Fällen setzte der Beschuldigte einen nicht begründeten Notruf ab und bestellte einen Krankenwagen zu seiner Wohnung (Fälle 5 und 6).

Rz. 5

b) Nach der Beurteilung des sachverständig beratenen Landgerichts war der Beschuldigte bei Begehung der Taten wegen einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB unfähig, das Unerlaubte seiner Taten einzusehen. Seit seiner Einreise in die Bundesrepublik im Jahre 1992 bis zum Jahre 2006 wurde der Beschuldigte wegen seiner Erkrankung in 29 Fällen stationär in psychiatrischen Kliniken behandelt. Er leidet an einer seit 20 Jahren bestehenden und dokumentierten schizoaffektiven Störung, wobei es sich um eine episodische Störung handelt, bei der affektive und schizophrene Symptome gleichzeitig vorhanden sind. Im Vordergrund der Symptomatik stehen eine immer wieder auftretende Gereiztheit mit aggressivem Verhalten. Die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten war im Rahmen der bei ihm für die Tatzeiten festgestellten manischen Symptomatik vollständig aufgehoben.

Rz. 6

c) Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht abgelehnt, weil die Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Taten nicht ergebe, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seien zwar weitere Taten zu erwarten, die in ihrer Qualität den festgestellten Anlasstaten entsprechen. In ihrer konkreten Begehungsform erreichten diese Taten jedoch nicht den Bereich der mittleren Kriminalität. Aus den Anlasstaten ergebe sich, dass von dem Beschuldigten lediglich Taten zu erwarten seien, die dem unteren Bereich der Kriminalität zuzuordnen seien. Das gelte nicht nur für die Fälle der Beleidigung, des Hausfriedensbruchs, der Sachbeschädigung und des Missbrauchs von Notrufen, sondern auch für die vom Landgericht näher erörterten Vorfälle 3, 4 und 26. Diese Vorfälle belegten zwar eine Gefahr, insbesondere für die körperliche Unversehrtheit der Geschädigten. Der Grad der Gefährdung stelle sich bei dem konkreten Tatmuster des Beschuldigten aber als nicht erheblich dar. Beraten durch den psychiatrischen Sachverständigen gehe die Kammer nicht davon aus, dass eine weitergehende Eskalation der Gewalt in diesen drei Fällen ernsthaft drohte oder in zukünftigen Fällen zu erwarten wäre. Das gelte auch für den Fall der Todesdrohung unter Vorhalt eines Messers im Fall 3. Insbesondere aus dem Nachtatverhalten ergebe sich, dass die Todesdrohung, die von den Tatopfern ohnehin nicht ernst genommen worden sei, aus der Sicht des Beschuldigten zu keinem Zeitpunkt in die Tat umgesetzt werden sollte. Der in die Enge getriebene Beschuldigte habe sich lediglich seinen Verfolgern kurzfristig entziehen wollen. Die Drohung sei daher als defensiver Akt nicht darauf angelegt gewesen, in eine Verletzungshandlung zu münden.

Rz. 7

Die Strafkammer und auch der Sachverständige könnten zwar nicht ausschließen, dass künftig eine von den Beschuldigten herbeigeführte Situation soweit eskaliere, dass es zur Begehung auch schwererer Delikte komme. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfordere jedoch eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades und nicht nur die einfache Möglichkeit schwerer Taten. Auch unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Vorbelastungen sei eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende Wahrscheinlichkeit schwerer Taten nicht festzustellen.

Rz. 8

2. Das Landgericht hat das Gewicht der von dem Beschuldigten zu erwartenden neuen Taten fehlerhaft gewichtet.

Rz. 9

Die Strafkammer geht zwar zunächst zutreffend davon aus, dass wegen der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit und mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) nur schwere Störungen des Rechtsfriedens, die zumindest in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigen (vgl. u. a. BVerfGE 70, 297, 312; BGHSt 27, 246; BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 8, 9, 11, 27; BGH StV 2006, 579; NStZ 1995, 228; NStZ-RR 2006, 203).

Rz. 10

Die vom Landgericht vorgenommene Gesamtwürdigung, dass die festgestellten Anlasstaten des Beschuldigten in ihrer konkreten Begehungsform nicht in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, trifft jedoch nicht zu. Die festgestellten Anlass- und Vortaten gehen vielmehr in erheblichem Umfang deutlich über bloße Belästigungen der Allgemeinheit oder Bagatelltaten hinaus. Das gilt bei den festgestellten Anlasstaten jedenfalls für den Faustschlag gegen eine Spielhallenaufsicht, den bedrohenden Einsatz eines Messers gegen den Gastwirt und den Kniestoß in Richtung auf den Unterleib der Verkäuferin in einer Bäckerei. Soweit das Landgericht versucht, das Gewicht der Anlasstat im Fall 3 durch die Annahme zu relativieren, die Drohung mit dem Messer stelle sich nur als defensiver Akt dar, der keineswegs darauf angelegt gewesen sei, in eine Verletzungshandlung zu münden, fehlt es an einer tragfähigen Beweisgrundlage. Nichts anderes gilt für die Vorfälle 4 und 26 vom 8. März und 13. August 2006. Hier bleibt offen, worauf das Landgericht seine Annahme stützt, dass diese Attacken nicht auf den Einsatz weiter gehender Gewalt angelegt gewesen seien.

Rz. 11

Bei den Vortaten, derentwegen der Beschuldigte bestraft wurde, ist der Vorfall vom 27. September 2004 von Gewicht, bei dem der Beschuldigte eine Spielhallenaufsicht, die ein bestehendes Hausverbot durchsetzen wollte, mit beiden Händen am Hals packte und derart heftig würgte, dass ihr Atemnot, Schmerzen und zwei Tage anhaltende Schluckbeschwerden verursacht wurden. Nicht mehr zu den bloßen Belästigungen der Allgemeinheit gehört auch der Vorfall im Jahr 2003, bei dem der Beschuldigte einer Frau im Streit um geschenkte Ohrringe mehrere Faustschläge versetzte, die zu schmerzhaften Prellungen an Rücken und Hinterkopf sowie zu Schürfwunden am Arm führten. Wegen dieser Vorfälle wurden im Strafbefehlsverfahren zwar lediglich Geldstrafen von 120 bzw. 30 Tagessätzen verhängt. Die mäßige Höhe dieser Strafen beruht jedoch darauf, dass in beiden Fällen von einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten bei der Tatbegehung ausgegangen wurde, so dass hieraus nicht auf den Bagatellcharakter der zu Grunde liegenden Taten geschlossen werden kann.

Rz. 12

In Übereinstimmung mit dem gehörten Sachverständigen geht das Landgericht davon aus, dass von dem Beschuldigten krankheitsbedingt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere Taten zu erwarten sind, die in ihrer Qualität den bereits festgestellten Taten entsprechen. Dies bedeutet aber, dass von dem Beschuldigten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne von § 63 StGB zu erwarten sind.

Rz. 13

Bedenken begegnet im Übrigen auch die prognostische Differenzierung, dass zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere Taten vom Gewicht der Anlasstaten zu erwarten seien, sich jedoch keine über die bloße Möglichkeit hinausgehende Wahrscheinlichkeit schwerer Taten feststellen lasse. Insoweit beruft sich das Landgericht zwar auf die Beurteilung des psychiatrischen Sachverständigen. Bei der Gesamtwürdigung der konkreten Tatumstände bei den Anlasstaten wird jedoch nicht berücksichtigt, dass es jeweils dem besonnenen Verhalten der Tatbetroffenen, denen die Verhaltensweisen des Beschuldigten vertraut waren, zu verdanken war, dass es nicht zu einer weiteren Eskalation des Tatgeschehens kam. Letztlich hing es deshalb nicht von dem Verhalten des Beschuldigten, sondern von dem der Betroffenen und damit vom Zufall ab, ob die Tatsituationen eskalierten. Zudem darf bei der Gefährlichkeitsprognose nicht außer Betracht bleiben, dass von den irrationalen Verhaltensmustern des Beschuldigten nicht notwendigerweise nur solche Personen betroffen sind, die zum näheren Umfeld der Mitbewohner des Beschuldigten gehören, bei denen er mit seinen irrationalen Verhaltensweisen bekannt ist.

 

Unterschriften

VRi'inBGH Dr. Rissing-van Saan ist durch Urlaub an der Unterschrift gehindert. Bode, Bode, Fischer, Roggenbuck, Appl

 

Fundstellen

Haufe-Index 2553340

NStZ 2008, 210

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